Prof. Fritz Fischer

Griff nach der Weltmacht

Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18

Droste-Verlag 1961

Griff nach der Weltmacht (Fritz Fischer)

„Fischers Thesen waren ein Schock. In Jerusalem stand Adolf Eichmann vor Gericht, in Frankfurt begannen die Auschwitzprozesse. Allen Deutschen wurde vor Augen geführt, welche schrecklichen Dinge im Dritten Reich passiert waren. Und nun sollten sie auch noch schuld am Ersten Weltkrieg sein.“ Mit diesen Worten versuchte vor einiger Zeit mit Konrad Jarausch ein Professor für Zeitgeschichte die Aufregung zu erklären, die Anfang der sechziger Jahre über Fritz Fischers Behauptungen zum Kriegsausbruch von 1914 herrschte.

Auschwitz und Eichmann sind heute noch so gut wie jedem ein Begriff. Um Fritz Fischers Thesen dagegen ist es still geworden, und das nicht nur wegen des Todes des Autors, der sich in diesem Jahr [2009] zum zehnten Mal jährt. Die Aufregung über den Ersten Weltkrieg hat sich gelegt. Er wurde inzwischen historisiert, und damit schrumpften Fischers Aussagen wieder zu dem zusammen, was sie ursprünglich gewesen waren. Nach jahrelanger Vorbereitung hatte hier ein weitgehend unbekannter Historiker zur öffentlichkeitswirksam richtigen Zeit eine zunächst eigentlich zurückhaltende These formuliert: Das Deutsche Reich sei für den Ausbruch des Weltkriegs von 1914 mitverantwortlich gewesen. Das schlug Anfang der Sechziger ein wie die sprichwörtliche Bombe, fühlten sich die Deutschen doch bis dahin als die 1914 Angegriffenen, und zwar auch die deutschen Fachhistoriker, die für diese Auffassung zahlreiche gute Argumente zusammengetragen hatten.

Fischer sprach nun von deutscher Mitverantwortung. Die Zunft schäumte, die Streitschriften kochten hoch, und Fischer entschloß sich, in die Offensive zu gehen. Mit viel Neigung zu Polemik und auch scharf in der persönlichen Auseinandersetzung während mancher Fachdebatten machte er aus der Mitverantwortung praktisch eine deutsche Alleinverantwortung. Der Krieg von 1914–1918 erschien als der bald sprichwörtliche alleinige deutsche „Griff nach der Weltmacht“. Stichhaltige Belege dafür hatte er keine und konnte er nach den jahrzehntelangen Vorarbeiten anderer Historiker auch gar nicht haben. Die Kriegsbereitschaft im alliierten Lager vor 1914 war längst offengelegt. Selbst die in Moskau regierenden Bolschewiki hatten in der Frühphase ihrer Herrschaft gern manche Offenbarung aus den russischen Kriegsakten herausgelassen. Bekannt war somit der Ausspruch des Zaren, der russisch-französische Bündnisvertrag sei ein Papier zur Eroberung Deutschlands und seiner Aufteilung in Kleinstaaten. Aber dessen ungeachtet erreichten die Fischer-Thesen als deutsche Alleinverantwortungsdebatte die Öffentlichkeit und schließlich die Geschichtsbücher.

In der Tat läßt sich dies von der Zeitströmung gar nicht trennen. In der damals gerade aktuellen Mischung aus neuen nationalsozialistischen Folgeprozessen, von Hakenkreuzschmierereien an Synagogen – von der DDR aus manipuliert, wie sich später herausstellte –, dem just neu erfundenen Mittel des Verfassungsschutzberichts und eben der Alleinschulddebatte über 1914 wurde die Bundesrepublik gewissermaßen neu erschaffen.

Fischers Thesen paßten in die Zeit und dem einen oder anderen ganz sicher auch in die politische Strategie. Da fiel es neben den offenkundigen fachlichen Mängeln auch gar nicht so sehr auf, daß Fischer selbst als früherer Nationalsozialist Angriffspunkte bot. Als Partei- und SA-Mitglied, das seine akademische Karriere während der NS-Zeit bis zur Professur vorangetrieben hatte, hätte gegen ihn leicht ein Verdacht des Opportunismus gegenüber den neuen Verhältnissen aufkommen können, zumal seinen Studien Forschungsaufenthalte in den USA vorangegangen waren. Fischer selbst stellte den Zusammenhang mit den USA als ein Saulus-Paulus-Erlebnis dar, das er nach dem Krieg in amerikanischer Gefangenschaft gehabt haben wollte. Dort sei er mit Hunderten von SS-Leuten zusammengetroffen, die sich ihrer Verbrechen gebrüstet und sogar noch bedauert hätten, nicht noch mehr „Minderwertige“ vernichtet zu haben. Geschockt von diesem Fehlen jeglichen Schuldgefühls sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, und er habe beschlossen, mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten alles zu tun, um eine Wiederholung solcher Taten zu verhindern.

Fazit

So hatte Fischer ganz bewußt seinen Anteil daran, wenn in den Folgejahrzehnten die bloße Existenz eines deutschen Nationalstaats zunehmend mit Sonderwegen und selbst angezettelten Kriegen gleichgesetzt wurde. Die kritische deutsche Bauchnabelschau hatte Konjunktur. Diese ahistorischen und unpolitischen Positionen sind unter Historikern für das Jahr 1914 weitgehend überwunden, aber noch nicht vollständig verschwunden. Die Aufgeregtheiten der sechziger Jahre beeinflussen weiterhin das Bild des Ersten Weltkriegs.

Zitat

„It can be stated with assurance that Fischer and his followers have in no way proven their case. […] There is no evidence whatsoever that Germany in 1914 deliberately unleashed a European war which it had been preparing for years.”

— Prof. Dr. Ralph Raico (libertärer amerikanischer Historiker)
In: J.V. Denson: “The Costs of War: America’s Phyrric Victories”, 1998, S. 213f.