Prof. Konrad Canis

Der Weg in den Abgrund

Deutsche Außenpolitik 1902–1914

Ferdinand Schöningh-Verlag 2011 719 Seiten 91 €

Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund

Über die Rolle Deutschlands in der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, sind mittlerweile Regalmeter von Büchern geschrieben worden. Konrad Canis fügt diesen weitere vier Zentimeter hinzu. Die sind keineswegs überflüssig. Nach der Außenpolitik des Zweiten Reichs unter den Nachfolgern Bismarcks („Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902“) und der Außenpolitik des „Eisernen Kanzlers“ („Bismarcks Außenpolitik 1870–1890. Aufstieg und Gefährdung“) schildert Canis abschließend in „Der Weg in den Abgrund“ die deutsche Außenpolitik von 1902 bis 1914.

Wie seine Vorgänger beruht auch dieses Werk im wesentlichen auf bekannten Archivquellen und der Auswertung der Forschungsliteratur, wartet also nicht mit neuen überraschenden Details auf. Doch anders als die jüngeren westdeutschen Kollegen kann sich hierzulande ein ursprünglich in der DDR sozialisierter Historiker wohl leichter erlauben, den Eigengesetzlichkeiten der Staatsraison wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Canis erzählt konsequent die Geschichte der Selbstbehauptung einer europäischen Großmacht im Kreise anderer Großmächte, schildert den außenpolitischen Überlebenskampf Deutschlands in einer internationalen Umwelt, in der existenzbedrohende Gefahren lauerten und in der der Krieg, auch der Angriffskrieg, noch als Ultima ratio, als das legitime letzte Instrument staatlicher Selbstbehauptung galt.

Das Buch setzt ein gewisses Grundwissen über die Ereignisgeschichte voraus, keiner der Bände seiner Trilogie eignet sich als Handbuch für historisch Unbedarfte. Canis rekonstruiert minutiös die machtpolitischen Hintergründe, Überlegungen, Ziele und Folgen der jeweiligen Entscheidungen der für die Führung der deutschen Außenpolitik Verantwortlichen. Er knüpft an ein klassisches Erklärungsmuster an, wonach es kein deutscher „Sonderweg“, sondern die deutsche „Sonderlage“ war, die der Außenpolitik des Zweiten Reiches ihr Gesetz aufprägte.

Der 1871 gegründete Nationalstaat entwickelte zwar eine wachsende ökonomische und militärische Stärke, die ihn in eine halbhegemoniale Stellung in Europa führte. Zugleich litt er aber stets an der fatalen geostrategischen Schwäche seiner Mittellage zwischen allen europäischen Großmächten, die ihn gegenüber einer feindlichen Koalitionsbildung extrem verwundbar machte. Bei Canis stehen so die bündnis- und mächtepolitischen Komponenten der deutschen Politik im Vordergrund, das stete Beobachten und Adjustieren der europäischen Mächtebeziehungen einerseits, die Folgen der Erweiterung oder Einschränkung des deutschen Bewegungsspielraums durch die jeweilige Mächtekonstellation andererseits.

Der „Weg in den Abgrund“ erzählt von der Zeit, in der dieser Bewegungsspielraum immer mehr, am Ende fast bis zum Nullpunkt eingeengt wurde. Und das aus Gründen, die sich im wesentlichen aus der Logik der Machtentwicklung der Großmächte ergaben. Diese zeichnete sich durch eine große Dynamik aus, die dem Reich gelegentlich durchaus auch größeren Bewegungsspielraum eröffnen konnte. Dieser Spielraum schrumpfte indes rasch zusammen, als sich England nach 1900 von seiner traditionellen Isolationspolitik verabschiedete und zum Schutz seines überdehnten Empires „Ententen“ mit Frankreich (1904) und Rußland (1907) abschloß. Die neuere Forschung betont gerne, daß diese „Generalabkommen“ Londons mit seinen großen kolonialpolitischen Rivalen der alten Regel folgte: if you cannot beat them, join them; daß man sich also mit denen, die man nicht besiegen kann – vor allem Rußland, dem die britischen Besitzungen in Asien militärstrategisch praktisch ausgeliefert waren –, verbünden soll.

Canis läßt dies gelten, betont allerdings, daß diese Politik Englands von Anfang an auch eine antideutsche Komponente hatte. Der ökonomisch dynamischste und vom Machtpotential her stärkste Konkurrent auf dem Kontinent sollte so in Schach gehalten werden. Aufgrund fehlender direkter aggressiver Absichten Londons vermeidet Canis zwar den Begriff „Einkreisung“, doch spricht er von einer bewußten „Ausgrenzung“ Deutschlands, die dessen außenpolitischen Bewegungsspielraum und sein ökonomisches Wachstum beschneiden und ihm den Aufstieg zur gleichberechtigten Weltmacht verwehren sollte. Aus Londons Perspektive war dies nur konsequent. Dem Reich hingegen bot diese britische Politik implizit nur die Option einer riskanten Juniorpartnerschaft auf dem Kontinent an, die weder für die deutsche Öffentlichkeit noch die deutsche Politik akzeptabel war.

Seit 1904 gestaltete sich die Lage des ausgegrenzten Reiches trotz mancher Ausbruchsversuche und aller Entspannungsbemühungen immer prekärer. 1914 hatte sie sich existenzgefährdend verschärft. Zwar war es Berlin nach dem faktischen Abbruch der deutschen Flottenrüstung 1912 gelungen, durch Einzelabkommen über koloniale Fragen das bilaterale Verhältnis mit London zu entspannen. Doch der ökonomische und militärische Wiederaufstieg Rußlands (nach dem Krieg mit Japan und der Revolution von 1905) machte rasche Fortschritte, während der Machtverfall des verbündeten Österreich-Ungarns nach den Balkankriegen von 1912/13 immer dramatischer wurde.

Zudem ging Rußland in Verbindung mit Frankreich immer stärker zu einer politisch-militärischen Offensivstrategie über, um seine Ziele in Südosteuropa und dem Osmanischen Reich zu realisieren und Konstantinopel auf dem Weg über Wien und Berlin zu erobern. Als im Mai 1914 auch noch Agentenmeldungen zu Verhandlungen über eine britisch-russische Marinekonvention – die im Fall des Falles die Anlandung russischer Heerestruppen in Pommern mit Hilfe der Royal Navy vorsah – in Berlin eintrafen, schien fast alles verloren. Das Attentat von Sarajewo vom 28. Juni 1914 wurde in dieser Situation als letzte Chance gesehen, durch einen kleinen, isolierten Krieg Wiens gegen Serbien den Machtverfall des Habsburgerreiches noch einmal aufzuhalten. Das Risiko eines großen Krieges wurde von Berlin durchaus gesehen, aber in Kauf genommen, weil man militärische Siegeschancen insbesondere gegen Frankreich 1914 noch zu haben glaubte, zu einem späteren Zeitpunkt aber nicht mehr.

Canis wendet sich explizit gegen dominante Erklärungsmuster der neueren deutschen Geschichtsschreibung. „Nicht aus weltpolitischem oder aus einem auf Europa zentrierten hegemonialen Eroberungsdrang (Fritz Fischer) oder aus einer manipulatorischen Absicht der inneren Systemstabilisierung (Hans-Ulrich Wehler) oder unter dem wachsenden Druck einer immer aggressiveren öffentlichen Meinung (Wolfgang J. Mommsen) ging man das Risiko des Krieges ein. Den Ausschlag gaben vielmehr außenpolitischer Fatalismus, ja, die blanke Verzweiflung (Egmont Zechlin).

Fazit

Die seit Anfang des Jahrhunderts vor allem von Großbritannien und Rußland maßgeblich beeinflußten machtpolitischen Konstellationen hatten für die deutschen Akteure zwingenden Charakter und ließen wenig Spielraum für andere Präferenzen und Ziele. Zwar kritisiert Canis eine Reihe von Unzulänglichkeiten, Falscheinschätzungen und diplomatische Fehler der verantwortlichen deutschen Politiker. Doch gesteht er ihnen zu, daß sie in der Regel das taten, was sie zum gegebenen Zeitpunkt zum Erhalt der Großmachtstellung und Existenz Deutschlands tun zu müssen glaubten. Am Ende kommt er sogar zu einem provokanten Urteil über die deutsche Politik in der Julikrise 1914: „War der Kurs auf den lokalen Krieg, den Österreich-Ungarn und Deutschland, mit dem kalkulierten Risiko des großen Krieges, einleiteten, politisch und militärisch vertretbar, war er, im Sinne der Staatsraison des Reiches, seiner Sicherheitsinteressen, gerechtfertigt? Die Frage muß man wohl bejahen.