Das Deutsche Kaiserreich

Die Kaiserzeit 1871-1918

Heft 4/2010 aus der Reihe „ZEIT-Geschichte" November 2010 5,50 €

ZEIT-Geschichte, Heft 4/2010: Das deutsche Kaiserreich

Im Jahre 2009 bezeichnete ZEIT-Redakteur und Historiker Volker Ullrich die positiven Ausführungen Eberhard Straubs über Wilhelm II. in dessen neuestem Buch als „bizarr”.

Jetzt hat der allwissende Hamburger ZEIT-Verlag mit dem Heft
„Das Deutsche Kaiserreich”
(aus der Reihe ZEIT-Geschichte”) bei diesem Thema selbst zugeschlagen, und Volker Ullrich, der bei Fritz Fischer promovierte, steuert den Hauptartikel bei.

Konkreten Anlaß gibt es keinen; wahrscheinlich sah man nach den jüngsten, einflußreichen Versuchen von Clark, Straub, Pintschovius und anderen, das Kaiserreich zu rehabilitieren, die Notwendigkeit gekommen, das ins Wanken geratene, einseitige Geschichtsbild wieder ins Lot zu bringen und die gewohnte Deutungshoheit zu reklamieren.

Tenor: Das Kaiserreich sei zwar technisch und kulturell modern und dynamisch gewesen, aber irgendwie war doch alles zum Untergang bestimmt, der dann im November 1918 – zwangsläufig – folgen mußte. Und am schlimmsten, natürlich, der Kaiser selbst: eine rein negative Gestalt, ein unfähiger Egomane, der dilettantisch” durch die Jahrzehnte seiner Herrschaft schlitterte. Immerhin muß Ullrich zugestehen: Die „Schnurrbart-Majestät” war bei breiten Schichten des Volkes „lange Zeit sehr populär”. Wir fragen: Warum wohl?

Sämtliche Autoren des Heftes folgen einer Linie, eine kontroverse Auseinandersetzung mit dem Thema findet demnach nicht statt. Der Anti-Wilhelm II.-Experte Prof. Röhl kommt breit zu Wort, sein Schüler Martin Kohlrausch darf dann die spätere Geburt des Führers aus dem Geist des Kaisers herleiten.

Ein neuer, „gendergerechter” Schwerpunkt bei der Negativbeurteilung des zweiten Kaiserreichs scheint zunehmend der „Männlichkeitswahn” zu sein. Freilich: Spätere Historikergenerationen werden für unsere Zeit einst gewiß einen „Verweiblichungswahn” diagnostizieren, der wohl wiederum ursächlich für den heute so beliebten Vorwurf des Männlichkeitswahns sein dürfte.

Und wie so oft: der Antisemitismus als Totschlagargument. Volker Ullrich: „Antisemitische Einstellungen wurden in großen Teilen des akademischen Bürgertums, des gewerblichen Mittelstands und der ländlichen Bevölkerung zur sozialen Norm; sie waren auch, wie John Röhl gezeigt hat, bei Wilhelm II. und in der wilhelminischen Hofgesellschaft virulenter, als dies lange angenommen wurde.”

Auffällig ist, daß Ullrich in dieser Aufzählung die Klasse der Arbeiter, die oft Sozialisten waren, außen vor läßt. Offenbar soll suggeriert werden, Antisemitismus sei allein ein Phänomen der konservativen Eliten und Kleinbürger also der kaisertreuen Elemente – gewesen. In der Realität jedoch waren gerade die Sozialisten die ja ideologisch außerhalb des Kaiserreichs standen oft anfällig für einen mit Sozialneid verknüpften Antisemitismus, der bis zu Marx zurückreicht:
„In unzähligen privaten wie offiziellen antijüdischen Äußerungen – wie beispielsweise in der Parteipresse – war ein stereotypes, negatives Judenbild bei Sozialisten sozusagen volkstümlich verankert.
[…] Die sozialdemokratische Unterhaltungspresse bediente sich in Karikaturen, Witzen, Romanen und Erzählungen häufig antijüdischer Klischees”. (Ludger Heid: Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Tübingen 1992, S. 178)
Hier unterschlägt Ullrich eine unangenehme historische Tatsache, die wohl nicht ins Bild paßt. Und sie widerspricht auch dem stereotypen Bild des Kaiserreichs, das die ZEIT uns zeichnen will.

Ullrich verallgemeinert weiterhin grob: „Ein offener und latenter Antisemitismus prägte auch den alltäglichen Umgang mit Juden.

Daß die führenden Verleger des Kaiserreichs – von Ullstein bis Mosse – Juden waren, kein Wort! Daß Albert Ballin, einer der engsten Freunde des Kaisers, Jude war, hier kein Wort! Ullrich beschreibt die Judenzählung im deutschen Heer 1916. Daß Wilhelm II. dagegen einschritt und den Initiator der Kampagne an die Front strafversetzen ließ, verschweigt er. Daß der Antisemitismus in Rußland oder Frankreich weitaus stärker ausgeprägt war als im deutschen Kaiserreich, bleibt unerwähnt – schließlich würde dies nicht in die Logik vom behaupteten deutschen Sonderweg passen.

Fazit

Also alles wie jahrzehntelang gehabt: Man verschont den Leser in volkspädagogischer Verantwortung mit alternativen und ambivalenten Sichtweisen – spätestens, wenn es um Wilhelm II. selbst geht. Sichtweisen z.B. eines Prof. Clark, der seine vielbeachtete Wilhelm II.-Biographie 2008 auf Deutsch veröffentlichte und jüngst vom Bundespräsidenten mit dem Deutschen Historikerpreis ausgezeichnet wurde – sie bleiben unberücksichtigt und werden schlicht ignoriert.

Alles wie gehabt?!

Selbst einem unsensiblen Betrachter der gegenwärtigen Zustände muß klar sein, daß wir in vielerlei Hinsicht in einer „Zeitenwende” leben, der auch dieses überkommene, einseitige, geradezu hysterische Geschichtsbild zum Opfer fallen wird.
Wer in zehn Jahren dieses Heft zur Hand nehmen und sich dann noch einmal die anachronistischen Aussagen dieses Machwerks zu Gemüte führen wird, der dürfte – im harmlosesten Fall – nur zu einem Urteil kommen: „bizarr”!