„Wir wollen unseren Kaiser Willem wiederhaben“

Der 150. Geburtstag von Wilhelm II. könnte zum Wendepunkt der historischen Bewertung des deutschen Monarchen werden

von Rebecca Bellano

Launisch, größenwahnsinnig und chauvinistisch; wenn es darum ging, den letzten deutschen Kaiser schlecht zu machen, waren in den letzten Jahrzehnten stets willige Historiker zu Stelle.
„Wir wollen unseren alten Kaiser Willem wiederhaben!“ Mit diesen Worten hüpfte Anfang der 80er Jahre eine lütte norddeutsche Deern durch den Garten ihrer Großeltern. Diese beiden, Jahrgang 1920 und 1924, hatten sich angesichts der Vierjährigen an ihre eigene Kindheit zurückerinnert, und einer von ihnen brachte den einst als Kind gehörten Ausruf ins Gespräch, den das Kind sofort nachplapperte. Es sollten über zwei Jahrzehnte vergehen, bis die Enkelin begreifen sollte, daß mit „Kaiser Willem“ nicht nur Wilhelm I. sondern auch zeitweise sein Enkel Wilhelm II. gemeint gewesen war, jener Kaiser, der an den deutschen Schulen nur negativ als Verursacher des Ersten Weltkrieges dargestellt wurde, als narzißtischer, unter der Behinderung seines einen Armes leidender Egozentriker, der sprunghaft und launisch das deutsche Kaiserreich in den Untergang führte.

In den Kaiserhöfen (Unter den Linden, Berlin) anno 2008: Symbiose zwischen alt und neu

Daß in der Weimarer Zeit ein vernünftiger Mensch diesen „abscheulichen Herrscher“ hätte wiederhaben wollen, wurde den Nachgeborenen als absolut unvorstellbar dargestellt. Da es aber trotzdem geschah, liegt der Verdacht nahe, daß Kaiser Wilhelm II. irgend etwas an sich gehabt haben muß, das die Menschen selbst Jahre nach seinem Verlust der Kaiserkrone dazu hat bewegen können, „ihren“ Monarchen zurückhaben zu wollen.

„In der Literatur über diese Periode – und im allgemeinen, heutigen Bewußtsein – ist die verblüffende Tendenz zu beobachten, die Angelegenheit [Krüger-Depesche von 1896] aus englischer Sicht zu betrachten, implizit die Vorstellung zu akzeptieren, daß die britische koloniale Ausdehnung und die britischen Auffassungen vom Recht der Briten eine ,natürliche Ordnung‘ bildeten, in deren Licht die deutschen Proteste offensichtlich mutwillige Provokationen waren.“ Diese Ehrenrettung Wilhelms II. hinsichtlich seines Glückwunschtelegramms an den Präsidenten Transvaals (heutiges Südafrika), der einen britischen Angriff erfolgreich abgewehrt hatte, stammt übrigens von einem Wahl-Briten. Christopher Clark, in Australien geboren, ist seit Jahren auf der britischen Insel ein angesehener Historiker. Diese eben zitierten Zeilen schrieb der in Cambridge Lehrende bereits vor rund zehn Jahren, doch erst jetzt – pünktlich zum 150. Geburtstag von Wilhelm II. am 27. Januar – liegen sie in deutscher Übersetzung vor.

Prof. Christopher Clark (Universität Cambridge)

Bereits vor zwei Jahren überzeugte der Angelsachse die Deutschen mit seinem Buch „Preußen“ davon, daß Preußen eben nicht der kriegslüsterne Militärstaat, der Hitler erst möglich machte, war, wie ihn die breite deutsche Öffentlichkeit gerne sieht. Ähnliches nun bei „Wilhelm II.“, auch in diesem Buch ergreift Clark Partei für Wilhelm II.

Zwar gab es schon immer deutsche Historiker, die versuchten, den letzten deutschen Kaiser und seine Taten aus seiner Zeit heraus zu deuten, doch sie waren in der Minderheit.
In den letzten Jahrzehnten galt die Verteufelung des deutschen Monarchen als „schick“, wer anderes wagte, wurde in den linksgerichteten bundesrepublikanischen Medien der 70er, 80er und 90er Jahre schnell als rückwärtsgewandt und ewiggestrig verunglimpft. Erst in den letzten Jahren fanden Historiker, die in Wilhelm II. nicht nur einen Größenwahnsinnigen sahen, zumindest in Historikerkreisen Gehör. Christopher Clark hingegen erreicht breite Teile der Öffentlichkeit, da seine Bücher Bestseller sind.

Zitate von Wilhelm II. wie „Ihr wißt alle gar nichts. Nur ich weiß etwas, nur ich entscheide“ werden bis heute gerne angeführt, um zu belegen, daß der Kaiser unter „Cäsarenwahnsinn“ litt und die alleinige Macht einforderte, doch nur wer die Aussagen des Kaisers im historischen Kontext liest, erkennt auch seine Not. Als Sohn der ältesten Tochter der britischen Queen Victoria und des ältesten Sohnes von Kaiser Wilhelm I. wurden an den jungen Kronprinzen hohe Erwartungen gestellt, die dieser wegen seines von Geburt an gelähmten linken Armes schon körperlich nicht immer zu erfüllen in der Lage war.

Schon früh wurde der Junge zum Spielball zwischen dem konservativen prorussischen Reichskanzler Otto von Bismarck und seinem Großvater auf der einen Seite und seinen liberalen, probritischen Eltern auf der anderen. Auch suchten zumeist Menschen seine Nähe, die sich Vorteile von seiner Stellung versprachen. Von Bismarck immer wieder gegen Kronprinz Friedrich [Wilhelms Vater] in Stellung gebracht, fühlte sich der junge Mann umschmeichelt. Zu gern ließ er sich dessen Sympathiebekundungen gefallen, doch als er 1888 nach der nur wenige Monate währenden Regentschaft seines an Kehlkopfkrebs verstorbenen Vaters mit Bismarck als Reichskanzler zusammenarbeiten mußte, geriet er schnell mit diesem aneinander.

Der seit zwei Jahrzehnten die deutsche Politik gestaltende Reichsgründer konnte die Fürsorge des jungen Kaisers für „seine Untertanen“ im Bergarbeiterstreik von 1889/90 absolut nicht nachvollziehen. Gesetzliche Regulierungen von Frauen- und Kinderarbeit sowie Arbeiterschutzgesetze im allgemeinen leisteten in Bismarcks Vorstellung nur den ihm verhaßten Sozialdemokraten Auftrieb, Wilhelm II. sah es dagegen als seine Pflicht an, die „Bedrückung der Leute“ zu lindern. Interessanterweise drehten auch hieraus die Historiker der nachfolgenden Generationen dem Hohenzollern einen Strick. Statt Humanität unterstellte man ihm Popularismus.

Wilhelm II. als Jäger

Auch die Tatsache, daß er nicht nur mit dem 1890 aus seinem Amt scheidenden Bismarck als Reichskanzler nicht zurecht kam, wird vorwiegend dem Throninhaber angelastet. Wie schwierig es jedoch für einen jungen Mann sein muß, in einer Welt von alten Männern, die seit Jahrzehnten die Feinheiten der Politik kennen, seine Ziele durchzusetzen, wurde selten bedacht. Wilhelm redete gerne frei, ohne Manuskript, sagte direkt das, was sein Herz ihm auf seine Zunge legte. Für den obersten Vertreter eines Staates eine unverzeihliche Schwäche, doch diese macht ihn nicht gleich zu einem Psychopathen. Seine Ziele waren häufig redlich. Ob Krüger-Depesche oder Marokko-Krise: In beiden Fällen befürwortete er die Unabhängigkeit eines bestehenden Staates, doch erstaunlicherweise sieht die Nachwelt darin nur eine Brüskierung der Westmächte.

Auch seine häufigen politischen Richtungswechsel werden ihm zur Last gelegt, dabei ist nachprüfbar, daß Wilhelm durchaus bereit war, sich von den Argumenten seiner Mitmenschen umstimmen zu lassen. Er war also keineswegs der absolutistische Monarch, sondern gab bei guten Argumenten – allerdings auch bei dem reinen Machtkalkül anderer dienenden Gegendruck – nach.

Außerdem regierte Wilhelm II. zu einer Zeit massiver gesellschaftlicher Umwälzungen. Deutschland erstarkte politisch und wirtschaftlich und mit ihm Bürgertum und Arbeiterschicht, während die Agrarier gegen ihren schwindenden Einfluß anzukämpfen suchten. Zeitgleich entdeckten die Zeitungen auch dank gelockerter Zensur ihre neuen Einflußmöglichkeiten bei der Prägung der öffentlichen Meinung. Auch in Europa, ja, der ganzen Welt, verschob sich das Machtgefüge … und dann die zum Ersten Weltkrieg führende Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo. In einem derartigen Spannungsfeld sollte ein zugegebenermaßen nicht mit Weitblick, Fingerspitzengefühl und Durchhaltevermögen gesegneter Hohenzollernsproß sein Amt ausüben. Ein Amt, dessen Vollmachten von vielen Variablen abhingen.

Doch inzwischen werden auch ihn in ein neues Licht stellende Quellen en vogue. Quellen, die belegen, daß Wilhelm II. keineswegs den Krieg wollte und bis zuletzt nicht glaubte, daß die Provokationen von allen Seiten eine militärische Konsequenz nach sich zögen. So schrieb er dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, noch am 28. Juli 1914, dem Tage der österreichischen Kriegserklärung an Serbien, daß ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden sei.

Dem Kaiser, der vereinsamt und schon zu Lebzeiten verhöhnt 1941 in seinem niederländischen Exil verstarb, scheint allmählich in der Betrachtung seiner Person mehr Gerechtigkeit zu widerfahren.