Adolf von Harnack –
der Universal­gelehrte am Kaiserhof

von Dr. Erik Lehnert

Das überwiegend negative Bild vom letzten deutschen Kaiser und damit auch seiner näheren Umgebung wurde in den letzten zwanzig Jahren durch die Arbeiten des deutsch-britischen Historikers John Röhl geprägt. Im letzten Band seiner dreibändigen Biographie Wilhelms II., der im Herbst 2008 erschien, hat er auf über 1500 Seiten versucht, den Nachweis zu führen, daß der selbstverliebte Chauvinist Wilhelm an Deutschlands „Weg in den Abgrund“ maßgeblich beteiligt war bzw. ihn sogar bewußt in Kauf genommen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, scheut sich Röhl, dessen stupende Quellenkenntnis niemand bezweifelt, nicht, Aussagen zu zitieren, deren Unwahrheit längst nachgewiesen wurde. So behandelt Röhl unter der Überschrift „Unverantwortliche Ratgeber“ unter anderem Adolf von Harnack und charakterisiert ihn durch eine Stelle aus den „Denkwürdigkeiten“ des Fürsten Bülow, der von 1900 bis 1909 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident war, als einen der „Speichellecker, Weihrauchstreuer und Kriecher“, die „jederzeit bereit“ gewesen seien, „das Hemd zu wechseln und die Haut, wenn nötig“. Die feierliche Vorträge Harnacks hätten „an Byzantismus alles übertroffen“.

Adolf von Harnack

Dabei verschweigt Röhl dem Leser die Umstände und Hintergründe dieser Aussage, die in seinem Kontext vor allem dazu dienen soll, Wilhelm II. als jemanden darzustellen, der sich als Potentat am liebsten mit unterwürfigen Lakaien umgab. Beides ist falsch. Weder war Harnack ein opportunistischer Höfling, noch der Kaiser jemand, der keinen Widerspruch duldete. Röhl macht sich die Verleumdungen Bülows zu eigen, der auch nach seiner Entlassung als Reichskanzler noch lange Zeit ein freundschaftliches Verhältnis zu Harnack pflegte. Über den Hintergrund seiner Äußerungen ist viel spekuliert worden. Mittlerweile ist sich die Forschung weitestgehend einig, daß Bülows gekränkte Eitelkeit eine Hauptrolle spielt. Wie es sich auch immer verhalten hat; in jedem Fall wird daraus schon die besondere Rolle deutlich, die Harnack für den Kaiserhof und insbesondere den Kaiser hatte.

Wenn man von dem gewohnten Bild des Kaisers, wie es uns Röhl präsentiert, ausgeht, stellt sich die Frage, wie sich jemand in der Umgebung des Kaisers halten konnte, ohne sich zu verstellen oder gar sich selbst zu verleugnen. Zudem wird auch nicht recht deutlich, warum sich der Kaiser überhaupt mit Harnack abgab, denn an Höflingen dürfte es ihm ja gerade nicht gemangelt haben. Doch zum 150. Geburtstag des Kaisers sind in Deutschland gleich drei Biographien erschienen, die das gewohnte Bild einer Korrektur unterziehen. Danach war Wilhelm ein gebildeter Mensch, der durchaus andere Meinungen in seiner Umgebung duldete und diese oft als Anregung verstand, sich mit diesen Gedanken näher zu beschäftigen. Und so kommt in dem zeitweise recht engen Verhältnis zwischen Wilhelm und Harnack die liberale Geisteshaltung des Kaisers mehr zum Ausdruck, als es seinen Kritikern recht sein konnte und kann. Die Wege der beiden kreuzen sich zum ersten Mal im Jahr 1888. Zu diesem Zeitpunkt war Harnack Professor in Marburg und konnte bereits auf eine erstaunliche Karriere zurückblicken.

Harnack wurde am 7. Mai 1851 im estnischen Dorpat als Sohn des bedeutenden Theologieprofessors Theodosius Harnack geboren. In seinem Elternhaus scheinen in jeder Hinsicht die besten Bedingungen für eine umfassende Bildung gegeben gewesen zu sein, was sich daran ablesen läßt, daß nicht nur er, sondern auch vier seiner Brüder ebenfalls Professoren wurden. Nach glänzendem Schulabschluß studierte Adolf Harnack, wie er damals noch hieß, Theologie in Dorpat und Leipzig, einer Hochburg lutherischer Theologie, und wurde dort 1874 zunächst Privatdozent für Kirchengeschichte. In dieser Zeit wandte er sich von der konfessionellen Theologie ab und der liberalen Theologie zu, die einen Ausgleich zwischen Moderne und Christentum im Kulturprotestantismus suchte. Dieser Schritt bedeutete nicht nur ein Wagnis für die Karriere, sondern auch den Bruch mit seinem Vater, der bis zu dessen Tod nicht wieder repariert werden konnte. Doch bereits 1876 wurde er Professor in Leipzig und wechselte drei Jahre später nach Gießen. Er heiratete eine Tochter des berühmten Leipziger Chirurgen Carl Thiersch, mit der er im Laufe der Jahre vier Töchter und drei Söhne bekam. Seine Forschungsschwerpunkte lagen auf dem Gebiet der älteren Kirchengeschichte. 1886 folgte er einem Ruf nach Marburg. Im selben Jahr erschien der erste Band seines „Lehrbuchs der Dogmengeschichte“, der bereits den unabhängigen und undogmatischen Geist spüren ließ, da er darin die These vertrat, daß ein auf das Dogma fixiertes Christentum seinen eigenen Ursprüngen nicht mehr entspreche.

Ob sich der frisch gekrönte Kaiser Wilhelm II. von diesem undogmatischen Ansatz beeindruckt gezeigt hat, ist zweifelhaft. Vielmehr dürfte er dem Rat Friedrich Althoffs gefolgt sein, der seit 1882, also schon unter dem Großvater des jungen Kaisers, als Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium für die Universitäten, Schulen und die organisierte Wissenschaft zuständig war. Immerhin setzte Wilhelm aber die Berufung Harnacks gegen den Willen des Oberkirchenrats und der kirchlichen Presse durch, was für den jungen Herrscher eine nicht notwendige Machtprobe bedeutete. Der Kaiser gab hier definitiv den Ausschlag, denn er hatte als Oberster Bischof der preußischen Landeskirche das letzte Wort in diesen Fragen, und er wollte ausdrücklich „keinen Mucker“ auf diesem Lehrstuhl. Damit obsiegte die Lehr- und Forschungsfreiheit, während noch wenige Jahre zuvor eine Berufung Harnacks nach Leipzig an dem Veto der Amtskirche gescheitert war. Daß Wilhelm sich auf den Rat Althoffs, mit dem ihn später ein Vertrauensverhältnis verbinden sollte, verließ, sollte in der Zukunft Früchte tragen. Zunächst gab es jedoch Mißtöne.

Aus der Berufungsgeschichte ist nicht ersichtlich, warum Wilhelm II., der wissen mußte, daß er sich einen undogmatischen Theologen nach Berlin geholt hatte, vier Jahre später so scharf reagierte, als es im sogenannten Apostolikumsstreit um die Frage nach der Verbindlichkeit des Dogmas ging. Harnack relativierte erwartungsgemäß die Geltung solcher Lehrsätze mit dem Verweis auf ihre Geschichte und plädierte für ein zeitgemäßes, kürzeres Glaubensbekenntnis. Der preußische Kultusminister Bosse forderte daraufhin von Harnack Aufklärung über dessen Äußerungen: „Dies alles weiß ich bisher nur vom Hörensagen; es ist aber nöthig, Seiner Majestät darüber eine authentische Darstellung zu geben.“ Doch Harnack fühlte sich trotz des drohenden Disziplinarverfahrens in seiner Lehrfreiheit nicht bedroht und schlug einen Ruf nach Harvard aus, weil er seinem Vaterland dienen wolle und hoffe, daß nie ein Preuße wegen wissenschaftlicher Unfreiheit auswandern müsse. Damit lag er richtig. Harnack war zwar in der Gunst des Kaisers gesunken, wurde aber nicht bestraft.

Daß seine wissenschaftliche Reputation unabhängig von der Gunst des Kaisers wahrgenommen wurde, beweist die Tatsache, daß Harnack bereits 1890 in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, was für jeden Wissenschaftler eine hohe Ehre und Anerkennung seiner Arbeit bedeutete. 1896 hatte der 45jährige Harnack von der Akademie die ehrenvolle Aufgabe übertragen bekommen, die Geschichte dieser Institution zu schreiben. Dazu mußte er 200 Jahre Verfassungs-, Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte aufarbeiten, für einen einzelnen Forscher eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Heraus kam dabei ein beeindruckendes Werk von drei Bänden, das ihm für die weiteren Verlauf seiner Laufbahn entscheidende Impulse geliefert hatte. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte der Akademie hatte Harnack einen Einblick in die Möglichkeit der Zusammenarbeit von Gelehrten und Politik im Rahmen der Wissenschaftsorganisationen erhalten: „Ein Monarch kann der Wissenschaft durch lebendiges Interesse und thatkräftige Förderung große Dienste leisten, noch größere, wenn er selbst die hervorragenden Geister zu schätzen und anzufeuern weiß. Aber das höchste Verdienst erwirbt er sich um sie, wenn er über ihre Unabhängigkeit wacht und ihre Pflege einsichtigen Räthen anvertraut.“ Die auf Friedrich Wilhelm III., den Gründer der Berliner Universität, gemünzten Worten verfehlten ihre Wirkung auf Wilhelm II. nicht. Harnack hatte dieses Jubiläum bewußt nutzen wollen, um Wilhelm für die Belange der Wissenschaft zu interessieren. So hatte Harnack vorgeschlagen, das Buch Wilhelm zu widmen, was abgelehnt wurde. Aber immerhin zierte das Bild des Kaisers den zweiten Band.

Kaiser Wilhelm II. (in hellgrau) mit Adolf von Harnack (ganz rechts) am 28.10.1913

In seiner Rede, die der Kaiser zwar nicht hörte, aber doch vernahm, präsentierte sich Harnack als Vertreter einer modernen Wissenschaft, der obendrein noch über die Ideen verfügte, die notwendig waren, um Reformen anzustoßen. Wilhelm II. nahm diesen öffentlichen Auftritt Harnacks zum Anlaß, mit Harnack, der gerade zum Rektor der Berliner Universität gewählt worden war, in näheren Kontakt zu treten. Erst jetzt hatte Harnack persönlichen Zugang zum Kaiser. Am 30. Oktober 1900 heißt in einem Brief an einen Freund: „Eben war ich beim Kaiser; er war außerordentlich freundlich. Ich habe über ein ¼ Stunde mit ihm gesprochen.Von diesem Zeitpunkt an wurde Harnack manchmal mehrfach in der Woche zu vertraulichen Gesprächen ins Schloß eingeladen. Desöfteren warteten Diener des Kaisers vor seinen Seminarräumen, um ihn abzuholen oder nach einer Vorlesung abzupassen. Aus dieser Zeit liegt uns eine detaillierte Schilderung über eine Abendgesellschaft von Harnack vor. Dabei wird deutlich, daß es Harnack geschickt verstand, das Gespräch auf Themen zu lenken, für die er sich verantwortlich fühlte: Bibliothek, Universität und Wissenschaft im allgemeinen. Seit 1901 konnte er so für den Neubau der Bibliothek werben, deren Generaldirektor er wenige Jahre später wurde.

Wilhelm zeigt aber auch Interesse an den theologischen Ansichten und brachte ihn mit Houston Stewart Chamberlain zusammen, von dessen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ der Kaiser sehr angetan war, was bei Harnack weniger der Fall gewesen sein dürfte, da er den Antisemitismus Chamberlains nicht teilte. Aber der vertrauliche Umgang des Kaisers mit Harnack wurde von der Öffentlichkeit kritisch beäugt, wie ein Brief des Kaisers an Chamberlain belegt: „Der Verkehr Harnacks bei mir hat ‚orthodoxe‘ protestantische Pfarrer und Kreise arg beängstigt…Mein Grundsatz ‚Nur keine Voreingenommenheit‘ ist den Leuten unbequem.“ Harnack war zu dieser Zeit sicher der bekannteste evangelische Theologe des Reiches, eine Stellung, die er mit seinen vieldiskutierten Vorlesungen zum „Wesen des Christentums“ eindrucksvoll unterstrich.

Unterbrochen wurde diese enge Zusammenarbeit zwischen dem Kaiser und Harnack durch eine wissenschaftliche Debatte, den sogenannten Bibel-Babel-Streit. Der Assyriologe Friedrich Delitzsch hatte Anfang 1903 in einem Vortrag (in Anwesenheit des Kaisers) die neuesten Ausgrabungen in Babylonien zum Anlaß genommen, Verbindungen zum Alten Testament herzustellen und dessen Originalität in Zweifel zu ziehen. Harnack stimmte darin teilweise mit ihm überein, schrieb jedoch in einem Brief: „Es ist jammerschade, daß er, in der Hauptsache Recht habend, eine gute Sache zwar nicht vor dem Kaiser – denn ich fürchte, der empfindet nicht so -, aber vor den tiefer Denkenden discreditirt.“ Mit dieser Einschätzung lag er richtig. Der Kaiser sah die Person Christi herabgesetzt und lancierte einen persönlichen Brief an die Presse, in dem er die Auffassungen Delitzsch ablehnte und eigene theologische Gedanken entwickelte. Harnack schrieb daraufhin einen Kommentar zu der Debatte, u.a. mit der Begründung, daß die Öffentlichkeit nicht denken soll, „daß die Theologen aus Feigheit das Echo auf den Kais. Brief den Journalisten überlassen haben“. Der Kaiser bemerkte natürlich die in dem Aufsatz zum Ausdruck kommende Ablehnung seiner theologischen Auffassungen und schrieb einen langen Brief an Harnack, der daraufhin, sehr unterwürfig in der Form, in der Sache allerdings fest, antwortete: Die Wissenschaft müsse frei bleiben, könne nur das Erkennbare erkennen und sei keine persönliche Glaubensüberzeugung. Der Kaiser suchte nie wieder Harnacks Rat in theologischen Fragen, der Kontakt wurde nach kurzer Unterbrechung allerdings enger denn je.

Harnack war also nie der Hoftheologe oder „Hofdogmenlehrer“ (Maximilian Harden). Vielmehr teilten beide bestimmte Interessen und Ansichten. Harnack teilte den sozialpolitischen Kurs des Kaisers und engagierte sich von 1902 bis 1912 als Vorsitzender des Evangelisch-sozialen Kongreß, der eine christliche Antwort auf die sozialen Fragen der Gegenwart suchte und damit dem Einfluß der Sozialdemokratie etwas entgegensetzen wollte. In seiner Festrede zum Kaisergeburtstag bezeichnete Harnack 1907 neben der sozialen Spaltung die konfessionelle als die größte Bedrohung für die innere Einheit Deutschlands. Auch hier konnte er sich mit dem Kaiser einig wissen, der den Katholiken gegenüber wesentlich aufgeschlossener war als Bismarck. Und auch in außenpolitischen Fragen herrschte bis zum Ersten Weltkrieg die Übereinstimmung vor, insbesondere was die Haltung zu England betraf. Das wichtigste Feld der Zusammenarbeit blieb jedoch die Bildungs- und Wissenschaftspolitik.

Harnack verfügte bereits seit 1901 über den direkten Zugang zum Machthaber, was in jedem Herrschaftssystem von entscheidender Bedeutung ist. Mit dem Ausscheiden Althoffs 1907 wurde er zum wichtigsten bildungspolitischen Berater des Kaisers. Mehrfach wurde er vom Kaiser zu gemeinsamen Reisen aufgefordert, denen Harnack aus Zeitmangel oft nicht nachkommen konnte. Nicht zuletzt ist es Harnacks Einfluß bei Wilhelm zu verdanken, daß im Oktober 1910, bei der Jahrhundertfeier der Berliner Universität, die Gründung der „Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ verkündet werden konnte. Er wurde auf Wunsch des Kaisers im Januar 1911 ihr erster Präsident. Harnack hatte lange für dieses Projekt eines „deutsches Oxford“, das auf der Domäne Dahlem entstehen sollte, geworben und dem Kaiser der Dringlichkeit solcher naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen deutlich gemacht. Die Wissenschaft bezeichnete er neben der Wehrkraft als zweiten „Pfeiler der Größe Deutschlands“. Damit schloß er an die Situation der Befreiungskriege an. Damals hieß es physische Verluste mit geistigen auszugleichen. Harnack sah in der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft eine Ergänzung der Humboldtschen Konzeption. Die Gründung war überaus erfolgreich, nicht zuletzt, weil die wirtschaftliche Elite Deutschlands großen Anteil daran nahm und die Finanzierung durch ihre Spenden absicherte. Als Max-Planck-Gesellschaft besteht sie noch heute.

Die Einweihung des Neubaus der Königlichen Bibliothek unter den Linden am 22. März 1914 bedeutete den Höhepunkt der öffentlichen Geltung Harnacks. Am selben Tag hatte er den erblichen Adelstitel erhalten und stand als Generaldirektor im Mittelpunkt dieser Feierstunde. Nach der Vorfeier betrat der Kaiser „unter Vorantritt des Kultusministers, des Generaldirektors und der vier ständigen Sekretäre der Akademie der Wissenschaften“ den „großen Kuppelsaal, den künftigen Lesesaal der Bibliothek“, heißt es in einem zeitgenössischen Pressebericht.

Der Erste Weltkrieg mußte zwangsläufig zum Abreißen des direkten Kontakts Harnacks zum Kaiser führen, da sich dieser jetzt anderen Beratern anvertrauen mußte, die ihn in dieser Situation in militärischen und politischen Fragen behilflich sein konnten. Hinzu kam, daß Harnack sich nach anfänglicher Euphorie die gemäßigten Ansichten seines Schwagers Hans Delbrück und dessen Mittwochsgesellschaft zu eigen machte und sich dadurch am Hof isolierte. Er versuchte gelegentlich seinen schwindenden Einfluß geltend zu machen und wendete sich mit Denkschriften an den Kaiser. Doch spätestens nachdem die Oberste Heeresleitung unter Ludendorff die Geschicke des Reiches bestimmte, hatten solche Initiativen keine Aussicht auf Erfolg mehr.

Nach dem Krieg fand Harnack sich im Gegensatz zu vielen anderen Professoren mit den neuen Verhältnissen ab und versuchte bis zu seinem Tod am 10. Juni 1930 weiterhin im Dienste der Wissenschaft zu wirken, indem er die von ihm betreuten Institutionen heil in die Republik rettete. Das wurde ihm als Opportunismus gegenüber den neuen Machthabern und Undankbarkeit gegenüber dem Kaiser ausgelegt, was ihn persönlich traf: „Was mein persönliches Verhältnis zum Kaiser betrifft, so wird das höchst falsch beurteilt, doch ich bleibe ihm persönlichen Wohlwollens wegen zu Dank verpflichtet und habe an diesem Dank es nie fehlen lassen.“ Das sah der Kaiser offenbar nicht anders. In seinen 1922 erschienenen Erinnerungen schreibt er: „Welch eine Persönlichkeit ist Harnack! Was für eine gebietende Stellung in der Geisteswelt hat er sich errungen! Welchen Nutzen und wieviel Wissen hat mir der rege und intime Verkehr mit diesem feurigen Geist gebracht! … An die Persönlichkeit Harnacks und sein Wirken werde ich immer gern zurückdenken.“ Beide hielten den Kontakt aufrecht. Bis zuletzt schickte Harnack die Berichte der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft nach Doorn, ins kaiserliche Exil, und es ist wohl ihm zu verdanken, daß der Name der Gesellschaft erhalten blieb.