100 Jahre nach dem Attentat von Sarajevo –
zum aktuellen Stand der Kriegsschuld­debatte

von Dr. Erik Lehnert
Der Weg zum Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg begann zunächst als dritter Balkankrieg zwischen der alten Großmacht Österreich-Ungarn und dem expansionslüsternen Serbien. Die Mobilmachung Rußlands im Westen (Richtung Ostpreußen), auf die Frankreich drängte, brachte den großen europäischen Konflikt. Erst der Eintritt Großbritanniens auf Seiten der Entente führte zum weltweiten Krieg der Mächte.

Obwohl sich das Attentat von Sarajevo erst in diesen Tagen zum einhundertsten Mal jährt, bestimmt die Debatte darum, was daraus folgte, den Buchmarkt und die historischen Feuilletons. Dabei geht es weniger um den am 28. Juni 1914 erschossenen österreichischen Thronfolger und seine Frau als um die Frage, inwieweit die Tat Auslöser für den Ersten Weltkrieg war. Daran wiederum knüpft die Diskussion darüber an, ob damit eine geschlossene Ereigniskette ausgelöst wurde, sei es aus Berechnung oder Dummheit, oder ob es alternative Szenarien gab, die ebenso wahrscheinlich waren wie der Kriegsausbruch.

Um die Bedeutung des Attentats beurteilen zu können, muß man daher nicht nur die Reaktionen der europäischen Mächte untersuchen, sondern auch deren Beweggründe, gerade so und nicht anders zu reagieren. Damit befinden wir uns in einem vor allem in Deutschland umstrittenen Feld der kontrafaktischen Geschichtsschreibung. Diese hat es sich zur Aufgabe gestellt, denkbare Alternativen aus dem Kontext der Zeit zu entwickeln. Nicht um das Geschehene zu negieren, sondern um es besser zu verstehen.

Neue Fragestellungen provozieren

Der amerikanische Historiker Sean McMeekin sieht in seinem Buch Juli 1914. Der Countdown in den Krieg (Berlin: Europa 2014, 557 S.) „kontrafaktisches Denken als zentral für historische Untersuchungen an“ und hält es für „weitaus konstruktiver als auf ‚Konsens‘ angelegte Interpretationen, die sich gegen jedes weitere Argument abschotten“. McMeekin weiß sich in dieser Auffassung einig mit Niall Ferguson, der bereits vor Jahren in seiner Aufsehen erregenden Untersuchung über die englische Kriegspolitik gezeigt hat, daß das Empire den „falschen Krieg“ führte, der schließlich zum Verlust der englischen Vormachtstellung an die Amerikaner geführt hat.

Daß dieses kontrafaktische Denken in Deutschland in einem schlechten Ruf steht, zeigt nicht zuletzt die gereizte Reaktion der FAZ auf die Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs von Jörg Friedrich, die vor kurzem unter dem Titel 14/18. Der Weg nach Versailles (Berlin: Propyläen 2014, 1072 S.) erschienen ist. Diese Gereiztheit hat einen konkreten Hintergrund. In Deutschland werden, allen neueren Forschungen zum Trotz, 1919 festgelegte Axiome als Grundlage der Geschichtsschreibung akzeptiert. Das wichtigste Axiom lautet: Deutschland trägt die Hauptverantwortung (wahlweise auch die Alleinschuld) am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Jeder Deutsche, der gegen diese Denkvoraussetzung verstößt, hat ein Problem.

Nun muß man aber, wenn die Hauptverantwortung erwiesen werden soll, zeigen, daß Deutschland auch anders gekonnt hätte. Wenn es keine Alternative gegeben hätte, wäre die Zuschreibung von Verantwortung sinnlos. Das wissen die Gereizten ziemlich genau, weshalb sie allergisch auf solche Untersuchungen reagieren. Und sie liegen richtig damit. Daß nicht mehr von Alleinschuld die Rede ist, hängt vor allem damit zusammen, daß man den Blick vom angeblich Alleinschuldigen löste und der naheliegenden Annahme folgte, daß auch andere Mächte Interessen hatten, für die ein Krieg vielleicht viel passender war. Das kann man nur feststellen, wenn man dem kontrafaktischen Denken folgt und fragt: Konnten denn vielleicht auch die anderen Mächte, die Sieger, anders und liegt deshalb zumindest ein Teil der Schuld und Verantwortung für den Weltkrieg bei ihnen?

Daß die kräftigsten Schläge gegen das Dogma der Alleinschuld aus dem Ausland kommen, kann daher kaum verwundern. Wie die Verkaufszahlen der Bücher zeigen, ist zumindest das Publikum dankbar für diese Schützenhilfe. Das gilt insbesondere für Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München: DVA 2013, 895 S.), das sich durch frühzeitiges Erscheinen im Herbst letzten Jahres die Aufmerksamkeit allein sichern konnte, um die sich jetzt viele Publikationen bemühen. Clark kommt weiterhin zugute, daß er sich hierzulande bereits einen Namen gemacht hatte. Mit seinen Büchern über Preußen und Wilhelm II. hatte er diese beiden entdämonisiert und so für öffentliche Debatten gesorgt.

Sein aktuelles Buch steht ganz in dieser Tradition: Abgesichert durch ein umfangreiches Quellenstudium versucht Clark den Gang der Geschichte insbesondere in der sogenannten Juli-Krise zu rekonstruieren. Clark sieht in ihr das „komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten“. Er konzentriert sich in seinem Buch auf das Wie, die Abfolge der Interaktionen, ohne expressis verbis die Frage nach der Schuld zu stellen.

Dazu holt Clark weit aus, wenn er mit der brutalen Ermordung des serbischen Königs im Jahr 1903 beginnt. Von den Drahtziehern und Akteuren dieses Umsturzes führt ein direkter Weg zur Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Dieser repräsentierte die Zukunft der österreichischen Doppelmonarchie, die der erklärte Feind der serbischen Nationalisten war. Der Thronfolger Franz Ferdinand war insofern das passende Opfer, weil er eine zwischen den Völkern ausgleichende Politik anstrebte, die den Falken in Österreich nicht gefallen konnte: Sie wollten die Dinge ebenso wie die Serben mit einem Krieg ins Reine bringen. Einen Automatismus zum Krieg gab es aber auch jetzt nicht.

Die Kriegsursache sieht Clark in der Entwicklung Europas von einem vielstimmigen politischen Ökosystem hin zur Konfrontation starrer Blöcke, die dann ihre innere Logik entwickelte. Diese griff schließlich nach dem Mord in Sarajevo mit aller Konsequenz in das Geschehen ein, und zog Europa, ohne daß es notwendig gewesen wäre, in den Weltkrieg. Da Clark kein Freund starker Thesen ist, finden sich in dem Buch keine expliziten Zuspitzungen, die sich mit Fritz Fischers These, die ja schon im dessen Buchtitel Griff nach der Weltmacht (1961) deutlich formuliert war, messen könnte.

Die These selbst allerdings, daß Deutschland die Hauptverantwortung am Ersten Weltkrieg trage, widerlegt Clark implizit. Dabei ist entscheidend, daß er sein Buch als internationale Vergleichsstudie angelegt hat, die, im Gegensatz zu Fischer, eben auch die Ereignisse, Gedanken und Personen der anderen Mächte in den Blick nimmt. Das Resultat ist eindeutig: Der Vorwurf der Alleinschuld bzw. Hauptverantwortung ist absurd. Laut Clark verteilt sich die Schuld auf alle Beteiligten, weshalb er von einer Tragödie spricht, aus der es letztlich kein Entrinnen gab.

Video-Trailer zu „Die Schlafwandler“ mit Christopher Clark im Bode-Museum in Berlin

Wenn man jedoch die einzelnen Ergebnisse von Clark nach der Verantwortlichkeit gewichtet, bleibt nur ein Schluß, daß zumindest alle anderen Mächte mehr Schuld am Ausbruch des Krieges hatten als Deutschland. Das für Deutschland entlastende Material wird von Clark in aller Ausführlichkeit ausgebreitet. Deutschland befand sich gegenüber den anderen Großmächten in einer benachteiligten Rolle und hatte geringere Handlungsoptionen, weil es auf den Kontinent beschränkt blieb und über kaum koloniale Handlungsmasse verfügte. Deutschlands Streben nach Seegeltung sieht Clark durch diese Lage gerechtfertigt und erblickt darin keinen Grund für einen Krieg. Letztendlich unterstellt Clark der deutschen Führung eine gewisse Naivität, weil diese nicht bemerkte, wie rasant sich die internationale Lage gegen Deutschland entwickelte. „Was den Kaiser anging, so neigte er zwar zu spontanen Ausbrüchen mit markigen Sprüchen, geriet aber in Panik und riet zur Mäßigung, sobald ein realer Konflikt in den Bereich des Möglichen rückte – sehr zur Enttäuschung der Generäle.

Im Gegensatz zu den anderen Mächten konnte sich Deutschland von einem Krieg nicht viel versprechen. Das einzige Argument für einen Krieg war die wachsende Stärke der Gegner und die daraus folgende Überzeugung, daß es daher besser jetzt als später einen Krieg geben solle. Doch die Vertreter eines Präventivschlages waren in der Minderheit; auch in Deutschland gaben die zivilen Politiker den Ton vor, nicht die Militärs.

In Frankreich gab es dagegen unter den verantwortlichen Politikern einen weitverbreiteten Deutschenhaß, man sann auf Rache für 1871 und man fühlte sich durch Deutschland bedroht. Letztendlich führte der französische Druck auf Rußland zum Ausbruch des Krieges, bei dem Frankreich Deutschland unbedingt in einen Zweifrontenkrieg ziehen wollte. Rußland wiederrum gab den Serben die volle Unterstützung für deren Provokationen gegen Österreich, nicht nur der panslawischen Sache wegen, sondern auch, weil Rußland eigene geopolitische Interessen in der Region verfolgte.

Auch die beiden Ereignisse, die allgemein als Beleg für die deutsche Verantwortung gelten, werden von Clark zurechtgerückt. Der sogenannte Blankoscheck, mit dem Deutschland Österreich seine Treue versicherte, ist eine logische Folge aus der Einkreisung Deutschlands, das gezwungen war, das Bündnis mit seinem letzten verbliebenen Verbündeten zu bekräftigen. Clark erwähnt auch, daß es auf Seiten der Entente eine ganze Reihe von Blankoschecks gab, die Serbien, Rußland und Frankreich so selbstsicher in den Krieg ziehen ließen. Das österreichische Ultimatum an Serbien vergleicht Clark mit dem, das die Nato Serbien 1999 in der Kosovo-Frage vorlegte und kommt zu dem Schluß, daß das von 1914 dagegen „harmlos“ war.

Ähnlich wie Clark beschränkt sich auch Sean McMeekin auf die Vorgeschichte des Krieges. Er greift dabei auf vorhandene Quelleneditionen zurück und versucht die Ereignisse zu rekonstruieren, indem er jedem Tag (vom 5. Juli bis zum 4. August) ein zusammenfassendes Kapitel widmet. Allerdings die einzelnen Fakten in einem gewissen Mißverhältnis zum salomonischen Urteil, das McMeekin schließlich in der Kriegsschuldfrage fällt. Einerseits bemerkt er sehr richtig, daß der Blankoscheck durchaus im Sinne einer sofortigen Strafaktion gemeint war. Damit hoffte man in Berlin mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Weltöffentlichkeit hätte Verständnis, weil der zeitliche Zusammenhang mit Attentat klar war, Österreich würde Macht demonstrieren und so die Entente vielleicht von einer voreiligen Eskalation abhalten, was schließlich zur lokalen Beschränkung der Auseinandersetzung geführt hätte. Daß sich Berlin damit verrechnete, weil die Entente zum Krieg entschlossen war, gerät McMeekin völlig aus dem Blick, wenn er abschließend dennoch urteilt: „Der Blankoscheck war töricht und unsinnig.

McMeekin stellt dagegen richtig fest, daß Deutschland als „letzte der vier hauptsächlich am Krieg beteiligten Nationen“ mobilmachte und sich Deutschland selbst ins Unrecht setzte, indem es „aus Gründen der Ehre“ nicht auf eine Kriegserklärung verzichtete. Frankreich und Rußland ließen gleich die Waffen sprechen. (Die erste Gefechte und Schlachten sowohl gegen Frankreich als auch Rußland fanden auf deutschem Boden statt!). In Deutschland gab es keinen Willen zum Krieg, weil man wußte, daß ein Zweifrontenkrieg (vor allem gegen Englands Unterstützung der Entente) kaum zu gewinnen war. Der Schlieffenplan, der diesen Mangel beseitigen sollte, „spiegelte die deutsche Schwäche, nicht die deutsche Stärke“ wider.

Aus deutscher Feder sind auf das hundertjährige Jubiläum von 1914 hin einige Gesamtdarstellungen des Weltkrieges erschienen, die sich zwangsläufig auch mit der Vorgeschichte des Krieges befassen müssen. Das erfolgreichste dieser Bücher stammt vom Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. In Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918 (Berlin: Rowohlt 2013, 924 S.) widmet er die ersten einhundert Seiten diesem Thema und spart dabei nicht mit Kritik an der Einseitigkeit und Radikalität der Fischer-These (um allerdings im Schlußteil des Buches die „wichtige Funktion“ der Fischer-These für das politische Selbstverständnis der BRD zu betonen).

Münkler untersucht beispielsweise die Rolle des Militarismus, der ja im Verdacht steht, eine strukturelle Ursache für Deutschlands angebliche Kriegslüsternheit gewesen zu sein. Er kommt zu dem Schluß, daß dem militaristischen Image des Reiches keine relevanten Tatsachen entsprochen hätten. Bei Kriegsausbruch hatte man „keine hinreichenden Munitionsvorräte angelegt, geschweige denn für eine entsprechenden Bevorratung mit Rohstoffen und Lebensmitteln gesorgt, und es standen auch nicht genügend Truppen zur Verfügung, um eine großangelegte Offensive erfolgreich durchführen zu können“.

Allerdings kommt Münkler in seinen Opus auch zu Einschätzungen, mit denen er Deutschland eine besondere Verantwortung (und damit auch Schuld) für den Weltkrieg zuschreibt, z.B. wenn er der Auffassung ist, daß Deutschland als Reich in der Mitte Europas eine „besonders achtsame und die Eskalationsrisiken moderierende Politik“ hätte betreiben müssen und in der Julikrise das Gegenteil davon getan habe. Das stimmt ebensowenig, wie die Behauptung Münklers, daß es von Deutschland während des Krieges keine ernstgemeinten Friedensangebote an die Alliierten gegeben habe. Insofern unterscheidet sich Münklers Buch von den englischsprachigen Veröffentlichungen, weil es mit der Einsicht in die Haltlosigkeit der Fischer-These nicht ernst macht. Münkler sieht zwar auch, daß die anderen Mächte Interessen hatten und sich durch Blankoschecks gegenseitig befeuerten, bleibt aber trotzdem dabei, daß auf Deutschland eine besondere Verantwortung laste.

Daß man den Spieß auch umdrehen kann, zeigt dagegen Jörg Friedrich in seiner Geschichte des Ersten Weltkrieges. Den Ruf den Friedrich seit seinem Bestseller Der Brand (2004) genießt, bestätigt er auch mit seinem neuen Buch: Für Friedrich ist die Geschichtswissenschaft nur Mittel zum Zweck. Und der Zweck seines Unternehmens besteht darin, die Geschichte des Ersten Weltkriegs auf eine Weise zu erzählen, die den Leser an die Hand nimmt, sich nicht vor scharfen Urteilen scheut, Schlußfolgerungen zieht, Zusammenhänge aufdeckt und die auch vor „umstrittenen“ Vergleichen nicht zurückschreckt.

Auch wenn Friedrich einem durchaus anthropologischen Ansatz folgt, der die damaligen Akteure bestimmten Zwängen ausgeliefert sieht, heißt das nicht, daß er kein gut oder böse mehr kennt. Im Gegenteil: Daß die Niedertracht bei der Entente zu Hause war, ist vielleicht noch nirgends so deutlich ausgesprochen worden wie hier. Friedrich scheut sich nicht, den Weltkrieg „mißlungen“ zu nennen, u.a. deshalb, weil er „in einer schlechteren Welt endete als der, aus der er kam“. Von Beginn an tat die Entente alles, den Krieg zu entfesseln, selbst als friedliebend dazustehen und Deutschland ins Unrecht zu setzen. „Deutschland, das lieber Aggressor als Verlierer sein wollte, war am Schluß beides.

Doch schon im Vorfeld des Krieges machten die Deutschen aus ihrem Herzen keine Mördergrube. „Die Gegenseite redete gedämpft, dachte global, steckte weiträumig ihre Interessenfelder ab und wartete die Schritte der Berliner ab.“ Die Gemengelage, die schließlich zur Entfesselung des Ersten Weltkriegs führte, wurde, so Friedrich, durch das Attentat von Sarajevo ganz bewußt entfesselt. Gerade so viele Spuren durften nach Serbien führen, daß Österreich Serbien angriff und doch so wenig, daß Rußland dem unschuldigen Serbien zur Hilfe kommen konnte. Der Rest war durch Verträge geregelt.

Dagegen wurden die legitimen Bündnispflichten Deutschlands gegenüber Österreich von der Entente nicht anerkannt. Auch die Legitimität einer österreichischen Strafaktion gegen Serbien wird von Friedrich daher nicht in Zweifel gezogen. Zu dieser bestand, „auch nach heutigen engeren Maßstäben, hinreichender Anlaß“: „Der Zusammenhang zwischen dem Al-Qaida-Kommando vom 11. September 2001 und dem afghanischen Talibanstaat war nicht enger als der zwischen der Princip-Bande und den Herrschaftsverhältnissen in Serbien.

Friedrich konstatiert für die deutsche Seite ein ehrliches, wenn auch zunächst halbherziges Bemühen um Vermittlung, das es versäumt habe, den Österreichern konkret zu sagen, daß sie einen schnellen und kurzen Schlag, etwa die Besetzung Belgrads, empfehlen würden. Als sie sich gerade zu ernsthafterer Vermittlung entschlossen, „kam, vielleicht nicht ganz zufällig, die russische Generalmobilmachung dazwischen“. Damit ist angedeutet, was Friedrich im Detail ausführt: Daß es eben in Rußland und Frankreich ein ernsthaftes Interesse am Krieg gab und man sich dort nicht durch deutsche Vermittlungen um die Gelegenheit bringen lassen wollte. Also mußten, durch die Mobilmachung Rußlands, Tatsachen geschaffen werden, die schließlich im Ersten Weltkrieg mündeten.

Gleichverteilte Schuld –
der aktuelle Konsens verweist schon auf die Fortsetzung der Debatte

Friedrichs Buch ist damit dasjenige, das die Konsequenzen aus den neueren Forschungen am schärfsten formuliert. Allerdings braucht man auch hier für die Lektüre einen langen Atem, weil sich diese Zuspitzungen verstreut auf tausend Seiten finden. Daß sich diese Sicht der Dinge durchsetzt, darf bezweifelt werden. Dafür läßt es sich mit der Kompromißformel von gleichverteilter Schuld zu gut leben. Sie tut keinem weh und bedient das Bedürfnis, an der Nachkriegsordnung, die 1919 errichtet und 1945 erneuert wurde, festzuhalten. Die überwiegende Haltung der deutschen Feuilletons weist jedenfalls in diese Richtung. Allerdings bietet das von der neuen Forschung ausgebreitete Material die Basis für eine Neubewertung der Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Hat sich die Kompromißformel erst einmal durchgesetzt, wird auch diese wieder zur Revision stehen, so daß vielleicht am Ende doch die Wahrheit den Sieg davonträgt.

Weitere Buchempfehlung zum Ersten Weltkrieg

Wer sich weiter jenseits der gängigen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg informieren will, kommt an dem bereits im Jahre 1999 erschienenen Band „Der falsche Krieg“ („The Pity of War“) des britischen Historikers und Harvard-Professors Niall Ferguson nicht vorbei. Die FAZ urteilte:

„Beste kontrafaktische Historiographie führte Ferguson in seinem dritten Buch vor. […] Er rekonstruierte die politische Diskussion in England vor 1914 und wies nach, dass das englische Kabinett sich mehrheitlich gegen einen Kriegseintritt ausgesprochen hatte. Hätte sich diese Ansicht durchgesetzt, dann hätte Deutschland einen Kontinentalkrieg gegen Frankreich und Russland wohl gewonnen. Das Kaiserreich hätte überdauert, die Weimarer Republik und die NS-Diktatur hätte es nicht gegeben, demokratische Strukturen hätten sich allmählich entwickelt.
Fergusons Buch wurde besonders in Deutschland heftig angegriffen. Offenbar war, wie Ferguson vermutet, den Deutschen der Gedanke an einen deutschen Sieg 1915 oder 1916 höchst unangenehm.“
(FAZ, 20.06.2007)