„Wille zur Haltung“

aus: „Verhüllter Tag – Bekenntnisse eines Lebens“ (1954)

von Reinhold Schneider

Der Schriftsteller Reinhold Schneider (1903-1958) ist heute weitgehend vergessen. Dabei veröffentlichte er in den 20er und 30er Jahren zahlreiche bedeutende historische Werke. Sein 1933 erschienenes Buch „Tragik und Königtum“ über die Hohenzollern übte scharfe Kritik am Nationalsozialismus. 1945 von den Nationalsozialisten wegen Hochverrats angeklagt, entging er nur aufgrund des nahenden Kriegsendes der Verurteilung.
Der überzeugte Christ veröffentlichte 1954 seine Autobiographie „Verhüllter Tag“, aus dem der folgende Text entnommen ist. Schneider schildert seinen Besuch bei Wilhelm II. in dessen Exil in Doorn (Holland) im Jahre 1935.

Hermine Prinzessin Reuss, die zweite Frau Wilhelms II.Im Herbst [19]33 wünschte die zweite Gemahlin Wilhelms II. eine Unterredung. Sie empfing, wenn sie sich in Berlin aufhielt, im Palais des Alten Kaisers Unter den Linden, dessen erinnerungsgesättigte Räume sich wie ein Geisterschloß belebten. Die hohe Dame war selten ohne ihr Strickzeug zu sehen: Sie fertigte Arbeiten für die Bazare, die sie in Berlin und Doorn unterhielt, insofern mißlich, als der grüne Knäuel meist während des Gesprächs unter einen Schrank oder eine Kommode entrollte und dann einer der anwesenden Herren oder deren mehrere sich genötigt sahen, ihm nachzukriechen. Vor den dicht geschlossenen Läden raste der von dem neuen Reiche entfesselte Verkehr — wohin? Die Kontraste konnten nicht phantastischer sein. Ihre Söhne [nicht die Söhne Wilhelms II.!], erzählte die Fürstin, hätten sie einmal mit Hitler bekannt gemacht. Ihre Frage an ihn: Warum er sich nicht verheirate? Seine Antwort: Weil ich keine Dynastie gründen will.

Die Fürstin sprach mit großer Wärme vom Kaiser. Sie war auf das aufrichtigste bemüht, dem ruhelosen Suchen und Fragen seines Geistes zu entsprechen und in der Lektüre mit ihm Schritt zu halten, gestand aber, daß dies über ihr Vermögen ginge. Sie wünschte, daß ich nach Doorn käme. Ich lehnte mit allen erreichbaren Gründen ab. Ich fürchtete mich vor dieser mir gänzlich fremden Atmosphäre, argwöhnte auch, daß ich über den Kaiser schreiben sollte. Das hätte mich in einen untragbaren Konflikt zwischen Ehrfurcht und Wahrhaftigkeit gebracht.

Zwei Jahre später, als ich aus England zurückreiste, fragte ich, ob ich in Doorn empfangen würde. Ich hatte das Bedürfnis, von einer ohne Zweifel geschichtlichen und viel verzeichneten Gestalt einen Eindruck zu empfangen. Im Dom zu Utrecht stand ich an der Stelle, wo das Herz Kaiser Heinrichs V. begraben ist. Große Schatten flüchteten über die arme Landschaft, durch die ich von Amersfoort fuhr, niedriges Kiefer- und Laubgehölz, an dem noch vorjähriges Laub hing, Gewässer dazwischen, ein Trupp übender holländischer Soldaten, April: es schneite und regnete zugleich. Das Auto des Kaisers fuhr eben durch das niedrige klotzige Hoftor aus Ziegelstein. Ein Freund, Freiherr von Sell, treuester aber keineswegs unkritischer Diener seines Herrn, war aus Berlin gekommen, um mir beizustehn; das ermutigte mich. Er führte mich die Parktreppe hinauf, an der an langer Kette ein weißer Hund zerrte und schäumte: er galt für sehr bös und wurde von den Herren „der weiße Tod“ genannt.

Wilhelm II. in Doorn

In einem düstern Zimmer des unteren Geschosses saß Wilhelm II. am Schreibtisch, scheinbar in drängender Arbeit. Aber die Mappe, die er nun dem eintretenden Grafen Finckenstein von Ecke zu Ecke zuwarf, muß fast leer gewesen sein. Der Kaiser sprang auf; meine Körpergröße amüsierte ihn ungemein; er lachte, daß das fast überreiche, in eine hohe Welle aufstrebende Haar zitterte. Aber die Augen waren wie blinde blaue Spiegel. Sofort begann er ein weltpolitisches Gespräch; vom Verhältnis zum gegenwärtigen Rußland, hinter dem er schon ein ganz anderes, zukünftiges als geschichtliche Wirklichkeit sah, war er in wenigen Augenblicken bei den Azteken und altafrikanischen Kulturen – Frobenius begeisterte damals den ganzen Hof, was für die alten Generäle nicht einfach gewesen sein mag –, dann im Mittelalter und in der Ordensgeschichte; es war ein nicht aufzuhaltendes Kreisen von Bildern, Ideen, Erinnerungen, Phantasien, das ein jedes etwa eingeworfene Wort — wenn ein solches glückte – sofort weiterschleuderte in neue Kombinationen. Und doch war auf der Stirne Wilhelms II. ein Schimmer von Souveränität, den ich kein zweites Mal gesehen habe. – Darauf führte mich die Fürstin – wir mußten sie „Majestät” nennen und taten es nicht gerne – im oberen Geschoß an das Sterbebett der Kaiserin Augusta Viktoria; es stand von Blumen überdeckt in dem wohl schönsten Raum des Obergeschosses, der unberührt erhalten wurde.

Der Kaiser geleitete seine Gemahlin zu Tisch; ich sah, neben ihm sitzend, daß das Fleisch ihm zerschnitten, mit Sauce überdeckt vorgesetzt wurde; doch verstand er, beabsichtigte Hilfe witternd, etwa eine Streichholzschachtel zwischen die schlaffen, verkrüppelten Finger der linken Hand zu klemmen und das Streichholz mit der andern anzufachen. Das Gespräch kam auf die Insignien, die echte Krone. Sein Vater, erzählte er, habe ihm, wenn er ihn belohnen wollte, ein Werk zum Betrachten überlassen, in dem sie abgebildet waren; Bismarck habe wohl gewußt, daß die echte Krone in Wien sei, und seine eigenen Absichten gehabt. Nach Tisch, am Fenster des Nebenraumes stehend, die Mokkatasse, die Zigarette haltend, sprach er fort: vom Reich, nur vom Reich. In den Kathedralen Süditaliens sei er mit Gesängen empfangen worden, die seit den Tagen der Hohenstaufen nicht mehr erklungen waren. Hinter ihm fielen Regen und Schnee in den schwarzen Schloßgraben, Wasser in Wasser.

Haus Doorn, das Exilschloß des Kaisers in Holland

Die Einrichtung war, von einigen Sünden der Pietät abgesehen, kostbar und würdig, wenn auch die Enge der Räume, der schmalen Gänge und steilen Treppen überfüllt war. Der Schloßherr empfing uns am Nachmittag im Turmerker, in dessen Rund sich drei Menschen kaum bewegen konnten. Hier stand er, einen gefangenen Vogel fütternd, dessen Käfig über Türmen von Schriften schaukelte. Sein Reden, Phantasieren, Fragen waren ein Protest gegen den Käfig, der ihn umschloß. Die Verhältnisse in Deutschland, die Spieler schien er klar zu sehn: sein Sohn August Wilhelm war dreist und töricht genug, ihn mit erhobenem Arm zu begrüßen: „Das habe ich ihm abgewöhnt.” All sein Suchen ging um eine feste Mitte: es war keineswegs ordnungslos; beängstigend war nur die Schnelle des Wechsels. Die Mitte war: die neue geistige Begründung der Monarchie aus dem Glauben und der Geschichte. Für sich selbst hatte er, wie mir schien, resigniert; die letzten Enttäuschungen hinsichtlich einer wenigstens ehrenvollen Rückkehr, etwa nach Homburg, hatte er wohl eben durchlitten. Ich wollte mich verabschieden. Aber das ließ er nicht zu: ich sei müde und müsse in Doorn übernachten.

Wilhelm II. in Doorn in Generalsuniform

Am Abend trug er Generalsuniform: er wolle mir, sagte er nach Tisch im Nebenzimmer, aus meinem Buche vorlesen. Er wählte das Kapitel, das Friedrich den Großen in Rheinsberg zu schildern sucht: an den Wänden hingen Penes Bilder der Freunde; der Vorlesende wies leicht auf sie hin, wenn ihr Name fiel, als redete er sie an. Draußen rasselte der „weiße Tod” an der Kette, und Schnee und Regen stürzten gewiß noch immer in den Schloßgraben: die alten Generale waren froh, sich dieses Mal nicht anstrengen zu müssen; ihre weißen Mittelscheitel nickten über herabsinkenden Augenlidern leise vornüber. Der Kaiser las leidenschaftlich-theatralisch; wenn ihm ein Ausdruck zu schwach war, steigerte er ihn oder er führte einen Satz weiter. Ich suchte nach dankenden Worten. „Bin gelobt worden. Kommt selten vor.”
Nun sank das Gespräch in kleine Dinge von Menschen, Familien ab. Ich begriff die tödliche Monotonie dieser Abende, Wochen, Monate, Jahre. Er erhob sich; ich sah noch einmal in die gleichsam ausgeweinten Augen; sie erschütterten, weil sie keinen Ausdruck mehr hatten. Dann bot er der Fürstin den Arm. Die alten Herren ermunterten sich; sie ließen Bier und Schnäpse kommen und füllten mir zum Abschied die Taschen mit Zigarren.

Ende August [19]39 hatte ich die Koffer schon gepackt, die Fahrkarte nach Doorn in der Tasche; ich wollte einer wiederholten Einladung folgen. Es lockte mich, zu sehn, wie die Welt in der äußersten Krise sich in Doorn reflektierte. Aber es war zu spät. Ich suche mir Rechenschaft zu geben. Aus der echten Repräsentanz, der Würde, der Darstellung überantworteter Werte, der Bildlichkeit des Menschseins, die keinem Fürsten erlassen werden können, war Wilhelm II. im Suchen nach dem Effekt in das Leere geglitten. Dennoch umwehte ihn noch die Präsenz des Geschichtlichen, die auch entmachteten Trägern großer Namen und Vergangenheiten eignet. Das Zerstörende war der unstillbare Durst des Schauspielers nach Beifall. Aber er hat das Menschsein doch nicht völlig zerstört. Denn das wurde vom Glauben gehalten.

Wilhelm II. mit seinen ältesten Enkeln (1913)

Wilhelm II. hatte Züge rührender Güte, verhaltener Aufmerksamkeit. Er hatte in schweren Fragen Zeit und Aufgabe richtiger gesehen als Bismarck; er war, in seinem Empfinden, dem Volke vielleicht näher. Aber als Friedrich Wilhelm IV. vor Bismarck sein Versagen in den Märztagen 48 mit seiner Schlaflosigkeit entschuldigen wollte, wurde er widerlegt: „Ein König muß schlafen können.” Ein König muß Ruhe haben in sich selbst. Daß er diese Ruhe nicht hatte, wurde Wilhelm II. zum entscheidenden Verhängnis. Da er keine Ruhe hatte, konnte er nicht reif werden. Es machte ihn zum Vorläufer des Zerstörers [Hitler], der seine Karikatur wurde, sofern die absolute Traditions- und Bindungslosigkeit, die Familienlosigkeit, Geschichtliches karikieren kann.

Wilhelm II. war das Opfer seiner Zeit, wie auch die Zeit sein Opfer war; er entsprach gewiß nicht dem Ganzen seiner Epoche, aber doch der herrschenden Tendenz, während er die edlere, tiefere hätte stärken müssen. Heute erscheint er mir wie eine viel zu kleine Gestalt in einem riesenhaften Raum. Unter dem Namen seiner Herrschaft sind an den von ihm geförderten Instituten die folgenschwersten naturwissenschaftlichen Entdeckungen gemacht worden, hat sich das Weltbild der Physik völlig verändert. Die Perspektive unserer Ära klaffte dann mit dem ersten Weltkrieg auf. Der erste Krieg ist die zersprengende Katastrophe: er warf die Menschen aus, die das Verbrechen des zweiten auf sich nahmen; er lieferte die Waffen in ihre Hand, erweckte, steigerte die Gewalt der Technisierung, die, nach allem Ermessen, die unwiderstehliche Wucht unserer Geschichte ist.

Und doch war Wilhelm II. noch ein fürstlicher Mensch, der die Welt in großen Zusammenhängen sah. So wird der Beherrscher eines starken Volkes, seiner Heere und Flotten, Förderer und Zerrütter, Feldherr nur dem Namen nach, aber auf Feldern namenlosen Grauens, zum Symbol kranker Macht. Wie stark, ja bewundernswert auch sein Wille zur Haltung ist: er ist versehrt, wie vom Tode gestreift; er hält sich starr auf dem Pferde: er befiehlt; die Truppe gehorcht ihm noch, aber nicht der abgestorbene Arm. Und niemand vermag zu sagen, welche Verhängnisse, welche vernichtungsartigen Umwandlungen der hinter ihm düsternde Himmel unserer Weltzeit noch birgt. Denn eben dieser gelähmte Mächtige ritt uns voraus.