Wilhelm II. – das moderne Individuum

von Dr. Eberhard Straub

Dr. Eberhard StraubDer bekannte Historiker, Journalist und Sachbuchautor Dr. habil. Eberhard Straub (geb. 1940) war bis 1987 Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, später bei der Stuttgarter Zeitung und der „Welt“.
1991 bis 1997 war er Pressereferent beim „Stifterverband für die deutsche Wissenschaft“, seitdem ist er freier Journalist.
Straub gilt als ein profilierter Kenner der wilhelminischen Epoche, u.a. verfaßte er „Drei letzte Kaiser“ (1998) und „Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers“ (2004), beide bei Siedler, München. Im Jahre 2008 erschien sein Werk über Wilhelm II. mit dem Titel "Kaiser Wilhelm II. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne".
Im folgenden Essay widmet sich Straub der kulturgeschichtlichen Bedeutung des letzten Deutschen Kaisers.

Es ist nichts so schwer, wie ein moderner Monarch zu sein. Die Kronen sind älter als die Moderne, und die Monarchen befanden sich seit der Französischen Revolution überall in der Defensive. Die Revolution richtete sich im Namen von Abstraktionen – der unpersönlichen Herrschaft des Gesetzes als Inkarnation der Vernunft – gegen persönliche Herrschaft, gegen anschauliche Wahrheiten, die sich in ihr ausdrückten. Königsherrschaft im ancien régime, der alten und als veraltet bei Seite geschobenen Welt, bezog ihre Überzeugungskraft aus Ideen, die von der Heiligkeit königlicher Herrschaft kündeten und einen großen Zusammenhang von Christus als dem gerechten Weltenkaiser bis zu jedem Fürsten als dessen Stellvertreter wahrten oder von Gottvater über den Landesvater bis zum Vater in der Familie. Herrschen war unter solchen Voraussetzungen mehr Sache der Einbildungskraft als des Verstandes und der Fürst selber mehr eine Idee und ein Bild als ein Mensch.

Herrschen ist in diesem Verständnis weniger eine Angelegenheit der Faust oder der Gebärde, welche die Macht an sich reißt – wie etwa bei Napoleon, dem revolutionären Kaiser. Herrschen war eine Angelegenheit des Sitzfleisches. Herrschen hieß sitzen, auf dem Thron, der sella curulis oder auf dem Heiligen Stuhl. Der Kaiser Rudolf in Franz Grillparzers „Bruderzwist im Hause Habsburg“ faßte diese Anschauungen noch einmal eindrucksvoll zusammen: „Ich bin das Band, das diese Garbe hält, / unfruchtbar selbst, doch nötig, weil es bindet... (nicht) in Voraussicht lauter Herrschergrößen / ward Erbrecht eingeführt in Reich und Staat, / vielmehr nur: weil ein Mittelpunkt vonnöten, / um den sich alles schart, was gut und recht, / und widerstrebt dem Falschen und Schlimmen“. Grillparzer schrieb diese Verse 1848, im Revolutionsjahr, elf Jahre vor der Geburt „Wilhelms des Plötzlichen“, „Wilhelms des Redseligen“ oder des „Reisekaisers“. Der harrte nicht im Mittelpunkt der eigenen Schwerkraft aus, wie der ideale Kaiser Rudolf. Er hielt sich an die dynamisierende Parole, immer in Bewegung zu sein, aufgeschlossen und aufmerksam, die eine Berliner Spruchweisheit seiner Tage knapp zusammenfaßte: „Raste nie, sonst haste sie / die Neurasthenie“.

Prompt geriet er in den Ruf, neurasthenisch zu sein, also sehr nervös. Damit erwies er sich allerdings als ungemein modern. Hatten die früheren Generationen den Spätgeborenen, den Zeitgenossen des Kaisers im fin de siècle, doch nur zwei Dinge hinterlassen, wie ein klassischer Nervöser – Hugo von Hofmannsthal – bemerkte: Hübsche Möbel und überfeine Nerven. Die nervöse Reizbarkeit des Kaisers, die manche ihm immer noch vorwerfen, verweist auf seine Modernität, und damit auf das moderne Individuum, das ohne überfeine Nerven und subtile Beimischungen der alle prägenden belle decadence als Lebensform gar nicht möglich wäre. Die ausgeprägte Individualität, die fertige Persönlichkeit fiel fast allen an Wilhelm II. zuerst auf. Er war in sämtlichen Sprachen als „der Kaiser“ bekannt. Dieser Titel bezog sich bei ihm aber gerade nicht auf eine überpersönliche Leistung, auf ein Amt und eine Idee im Sinne klassischer Herrscheridealität: „Was sterblich war, ich zog es aus / ich bin der Kaiser nur, der niemals stirbt“. Mit „The Kaiser“ oder „Le Kaiser“ sollte vielmehr ein ganz besonderes, sehr auffälliges Individuum gekennzeichnet werden, das als „der Kaiser“ in vielerlei Gestalten, je nach den Bedürfnissen der Umgebung oder dem Anlaß, erschien.

In Wien betonte Wilhelm II. die lässige Verspieltheit formaler Eleganz, in Rom die strenge Disinvoltura als entzückende Unbefangenheit, in Petersburg nahm er vornehm–zeremoniöse, soldatische Haltung mit ihrem ritterlichen Charme an. Unter Franzosen brillierte er mit seinem beweglichen ésprit und seiner Geistesgegenwart, in England gab er sich einfach wie ein Landedelmann mit allzu gesundem Menschenverstand. Seine hellen Berliner, auch wenn sie regelmäßig SPD wählten, schätzten in ihm einen ebenfalls hellen Berliner, und S.M. machte es viel Freude, unter ihnen Berliner mit ihrem genialen Straßenjungenjargon zu sein. Besuchte er preußische Regimenter, war er Soldatenkönig und anschließend bei Bier oder leichtem Mosel der erste Kamerad unter Kameraden. Während offizieller, mit kirchlichen Zeremonien verknüpften Handlungen berief er sich als preußischer König von Gottes Gnaden auf den guten, alten Gott, der sich so viel Mühe mit der Mark und dem Hause Brandenburg machte. Unter Professoren gab er sich als Roi des philosophes, der umsichtig Thron und Lehrstuhl, die Waffen und Wissenschaften in Verbindung hält.

Die Berliner Unfehlbarkeiten – die Professoren – dankten es ihm und arbeiteten als geistiges Leibregiment ihres Königs an des preußischen Reiches Glanz und Herrlichkeit. Anfang des Jahres war es unumgänglich, auch den Berlinern ihr tägliches Barock zu geben. Im Januar und Februar zelebrierte Wilhelm II. höfischen Prunk und Festlichkeit. Dann brach er auf, um auf einer Werft oder bei Krupp in Essen als Generalmanager der Deutsches Reich AG beunruhigte Nerven zu calmieren und Arbeitern zu versichern, weiter auf ihn vertrauen zu dürfen, auf ihn den Reformkaiser, den ersten Arbeiter in einer nationalen Arbeitsgesellschaft. Wilhelm II. wollte mit dieser, manche schwindlig machenden Variabilität in einer pluralistischen, in ununterbrochener Bewegung befindlichen Welt, die wiederum andere schwindeln machte, das alte Königtum und die neue Kaiserlichkeit als Orientierungshilfen erhalten.

Wilhelm II. begrüßt Graf Zeppelin nach einer Landung des nach ihm benannten Luftschiffs in Frankfurt am Main

Orientierungshilfen, die auseinanderstrebende oder sich vereinzelnde Kräfte beisammenhalten und auf das verpflichten, was alle angeht. Deshalb fühlte er sich dazu genötigt, über das Stahlgehäuse der Industriegesellschaft den Purpur zu werfen, den Automobilclub mit dem Altar zu verbinden und deutschen Meistersingern die Furcht vor der Technik zu nehmen. Den Kaiser als immer gleichen konnte es unter solchen Voraussetzungen nicht geben. Wilhelm II., der schnelle, mit den feinen Nerven für die Rhythmen einer neuen Zeit, versuchte mit dem sich dauernd beschleunigenden Tempo Schritt zu halten. Also unter dem Eindruck der unübersichtlichen Wandlungen in der Gesellschaft ein jeweiliger Kaiser für alle zu sein, was heißt ein individueller Kaiser für individuelle Ansprüche oder Interessen. Diese sollten über die Virtuosität kaiserlicher Stilisierungen zur Reichsfreudigkeit finden, wie man damals sagte. Unter allem Wechsel der Formen blieb das Individuum Wilhelm allerdings das beständige Element. Der Kaiser blieb immer Wilhelm, das moderne, unerschöpfliche und unaussprechliche Individuum, das Goethe feierte, selber der Inbegriff des modernen Individualismus.

Kaiser Wilhelm II. war unvermeidlich eine „zusammengesetzte Persönlichkeit“. Das tadelte der Historiker Hermann Oncken 1913 an ihm. Aber wir sind alle, wie Goethe meinte, zusammengesetzte Persönlichkeiten. Wir müssen die Mittel der äußeren Welt an uns heranziehen und unseren höheren Zwecken dienstbar machen. „Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und das Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles Übrige ist gleichgültig.“ In Graf Mirabeau, diesem royalistischen Revolutionär, würdigte Goethe ein Temperament, das andere mit Feuer durchdrang und zu seinen höheren Zwecken in Tätigkeit setzte. „Und eben, daß er es verstand, mit anderen und durch Andere zu wirken ......das war seine Originalität, das war seine Größe“. Diese Fähigkeiten sprachen viele Kaiser Wilhelm zu oder erwarteten sie von ihm. Ganz in Übereinstimmung mit Goethe, der sich um ihre Bildung als Weimarer Prinzessin gekümmert hatte, predigte die spätere Kaiserin Augusta [die Großmutter Wilhelms II.] solchen humanistischen Enthusiasmus den dafür aufgeschlossenen Berlinern. „Die Aufgabe jeder Erziehung ist und bleibt, den Menschen dem Menschen entgegen zu bilden, und der Mensch in dieser höchsten Auffassung des Ausdrucks thut in jetziger Zeit in den fürstlichen Häusern Noth, da der persönliche Werth eine Hauptstütze ihrer Macht geworden ist“. So umriß sie das Erziehungsprogramm für ihren Sohn Friedrich Wilhelm, den späteren Kaiser Friedrich.

Er wurde zum nachdenklichen, wissenschaftlich geübten Bildungsbürger erzogen, der gleichwohl Soldat zu sein hatte. Alles Soldatische höherer Art entsprang aber der Ritterlichkeit und beruhte auf aristokratischen Tugenden und Lebensformen. Zu guter Letzt sollte das menschenfreundliche Originalgenie auch noch ein gewissenhafter, konstitutioneller Monarch sein, der darauf verzichtet, allzu vorlaut auf seinen Rechten zu beharren, ohne aber die Würde der Majestät zu mindern. Er sollte drei Lebensformen harmonisch in sich verbinden: bildungsbürgerliche Individualität, soldatischen Anstand und die schöne Repräsentation königlicher Majestät. Damit wären auch robustere Temperamente überfordert gewesen. Obschon Kronprinz Friedrich daran scheiterte, zu einer harmonischen Persönlichkeit zu werden, richtete er ähnliche Erwartungen an seinen Sohn [Wilhelm II.] und dessen Erziehung. So wenig wie seine Mutter bedachte er das Dilemma, ob nicht eine überpersönliche Einrichtung wie die Monarchie in Schwierigkeiten gerät, sobald sie der Persönlichkeit, dem Individuum und dessen einzigartigem Eigentum zu viel Bedeutung beimißt und damit Prinzen oder Königen allzu viel zumutet und sie überfordert. Darin äußerte sich das Dilemma moderner, zeitgemäßer Königsherrschaft längst vor Wilhelm II.

Kaiserin Augusta, ihr Sohn Kaiser Friedrich III., dessen Frau Victoria – alle drei sehr eigensinnige Individuen – konnten gerade nicht über ihren persönlichen Wert allgemeine Hochschätzung finden. Ganz im Gegenteil, sie trieben unweigerlich zur Parteibildung. Sie wurden gehaßt oder geliebt. Die Mitte dazwischen, freundliches Wohlwollen, blieb ihnen versagt.

Wilhelm II. und Kaiser Franz-Joseph von Österreich (1830-1916)

In Österreich fürchtete die Kaiserin Elisabeth, von sich selbst entfremdet zu werden, ließe sie sich durch die Äußerlichkeiten kaiserlicher Verpflichtungen von ihrer inneren Vollbeschäftigung ablenken. Ihr Sohn Rudolf, zum Bürger und Menschenfreund gebildet, interessiert für alles, halb Wissenschaftler, halb Journalist, und dennoch Soldat, gab sich wie seine Mutter „Wolkenkraxeleien“ hin, wie Kaiser Franz Joseph, unpersönlich wie Schatten, ihm unangenehme, allzu eigensinnige Prätensionen nannte. Dem Erzherzog gelang es nie, seine Individualität und seine soziale Stellung miteinander zu vereinbaren. Er trieb journalistische Privatpolitik, intrigierte, entfaltete sein schillerndes Individuum in alle Richtungen, begann zu trinken, Drogen zu nehmen und entspannte sich in erotischen Abenteuern niedrigsten Niveaus. Der Selbstmord war unvermeidlich, nachdem er öffentlich die Politik seines Vaters und Kaisers verdammt hatte. Ausgerechnet in diesem seelischen Wrack wollten unmittelbar vor seinem skandalösen Ende Friedrich und Viktoria den Bürgerkönig der Zukunft erblicken.

Überhaupt bestätigten immer mehr Mitglieder des Erzhauses, daß es offenbar unmöglich sei, ein Mensch wie Du und Ich und zugleich ein Offizier und Erzherzog zu sein. Hochgebildet, geistreich, zart und traurig, sehr nervös und sehr modern, verließen viele nach und nach das Kaiserhaus, ohne aber je zu Bürgern werden zu können. Der potentielle Nachfolger Kaiser Franz Josephs, der Erzherzog Franz Ferdinand, verhielt sich endlich wie ein entfesselter Kleinbürger. In jedem Unbekannten vermutete er erst einmal einen gemeinen Kerl und behandelte ihn auch so. Das mag sehr individualistisch sein, aber mit einem solchen Verhalten ruiniert man eine Monarchie. Da war es doch sehr viel liebenswürdiger, wenn sich ein überreiches Ich in seine künstlichen Reiche zurückzog, wie Ludwig II. Das Volk duldete seine Schrullen, aber nicht seine durch und durch individualisierte Familie. Sie entmündigte ihn zu Gunsten seines wirklich geisteskranken Bruders Otto. Die Wittelsbacher zogen als erste die Konsequenz aus einem Königtum, das nur noch ein Prinzip, das monarchische repräsentierte: Der königliche Staat braucht gar keinen geistesgegenwärtigen König. Es genügt, wenn das Prinzip nicht verletzt wird.

Der junge Kaiser Wilhelm hatte genug Beispiele, die ihn veranlassen konnten, an der Vereinbarkeit von Modernität und Monarchie zu zweifeln. Er ließ sich jedoch von solchen deprimierenden Eindrücken nicht verwirren. Schließlich hatte seine Mutter ihn zum vollkommenen Menschen erziehen lassen. Der vollkommene Mensch ist alles auf einmal: ein aufopferungsbereiter Streber, ein Universitätsprofessor mit ausgezeichneten Manieren, ein gefühlvoller Unternehmer, ein verträumter Soldat, ein leidenschaftsloser Politiker, ein uneitler Künstler und tiefsinniger Weltmann auf einem Thron, von wo aus er alle Bewegungen überblickt und souverän lenkt. Um dieses Ideal zu erreichen, mußte freilich der junge Prinz dauernd gedemütigt werden, um nicht überheblich zu werden, sondern Selbstverleugnung zu lernen. Das verwies ihn aber gerade nicht auf die Welt und Umwelt und aus sich heraus, sondern immer wieder auf sich selbst zurück. Prinz Wilhelm lernte in sich selbst die ganze Welt zu sehen, gerade weil er von sich absehen sollte. Das hieß aber, sich erst einmal sehr wichtig zu nehmen und dennoch an sich zu zweifeln. Der moderne Subjektivismus, die Originalität Wilhelms II. war das Ergebnis solcher Bemühungen.

Seine Erziehung hat auf alles mögliche Rücksicht genommen, nur nicht darauf, ähnlich wie in allen Herrscherhäusern, ihn als Prinz für eine ganz unbürgerliche Aufgabe, einmal Monarch zu sein, vorzubereiten. Wer Mensch nach allen Seiten ist, der wird auch ein richtiger, zeitgemäßer Monarch. Das war eine liebenswürdige Vermutung, und eine sehr sorglose für einen Staatenbund wie das Deutsche Reich.

Der Kaiser inmitten der Wappen der deutschen Bundesstaaten

Der König von Preußen als das Präsidium des Bundesrates der Fürsten, die sich zum Deutschen Reich zusammengeschlossen hatten, unterschied sich nicht sonderlich von den übrigen Monarchen mit ihrer aus der Geschichte herkommenden Rechten und Verpflichtungen. Es gab aber wenig Vorstellungen, wie man von der dürren Formel „der deutsche Kaiser als Präsidium des Bundesrates“ zu einer belebenden Idee des Kaisertums gelangen konnte. Der kaiserliche Titel war nur eine Verlegenheit.

Der deutsche Kaiser war kein Souverän. Souverän war er als König von Preußen und erhielt über den Bundesrat Anteil an einer deutschen Souveränität, die alle Fürsten zusammen besaßen. Daneben gab es, um die Verhältnisse weiter zu komplizieren, den Reichstag des deutschen Volkes, das zwar kein Souverän war, aber ohne dessen Zustimmung der Souverän, der Bundesrat der Fürsten, nicht regieren konnte. Der Reichskanzler, der Bundesrat und der Reichstag regierten. Der Kaiser hatte nur zu unterschreiben, was sie beschlossen. Anderenteils war der Reichskanzler, der vom Kaiser ernannt wurde, nur ihm verantwortlich. In der Regel war er zugleich preußischer Ministerpräsident, was hieß, auch dem preußischen Landtag zugeordnet, dessen Mehrheiten bei einem Klassenwahlrecht sich von denen des demokratischen Reichstages unterschieden. Dies sehr geistreiche System sich wechselseitig ausbalancierender Mächte fand seinen Mittelpunkt im Kanzler. In einem Kanzler – Fürst Bismarck –, der zuletzt hoffte, seinen Sohn Herbert als Erben des Reichskanzleramtes durchzusetzen. Erbkanzler neben Erbmonarchen – diese Vorstellung beunruhigte nicht nur den greisen Wilhelm I. Sie beunruhigte die meisten Deutschen, die es durchaus als Befreiung erachteten, als der junge Kaiser den unmodernen vergreisten Kanzler entließ.

Wilhelm II. freut sich an seinem Geburtstag über Gratulanten vom Kinderheim Ahlbeck (27.1.1913)

Sie wünschten sich einen Kaiser, der mehr war als ein abstraktes Präsidium. Sie wünschten sich einen Kaiser, der „feurig und tatkräftig“ als deutscher Kaiser alle Deutschen dynamisierte und ins nationale Leben hineinrief. Die Ideen eines Volkskaisertums, weit verbreitet um 1890, ließen sich allerdings schwer mit der Verfassung vereinbaren. Kaiser Wilhelm wurde nicht zuletzt von Liberalen dazu aufgefordert, das Kaisertum zur nationalen Wirklichkeit zu machen und als Kaiser zu regieren. Das ließ aber die Verfassung nicht zu. Sie gewährte dem Kaiser höchstens über die Ernennung des Kanzlers und seine Abberufung eine gewisse Einflußnahme. Hatte er einen Kanzler berufen, mußte er ihm loyal gegenüber bleiben, wollte er sich nicht selbst ins Zwielicht rücken. Kaiser Friedrich als Kronprinz tadelte zu Recht, daß weder im Reich noch in Preußen die parlamentarische Verantwortlichkeit von Kanzlern und Ministern durchgesetzt wurde. Das hätte die Krone als überparteiliche Macht aus den Diskussionen heraushalten können.

Wilhelm II. sah sich nach der notwendigen Entmachtung der Bismarcks, die er sich gleichwohl weniger schroff vorstellte, meist dazu genötigt, der treue Herr seiner ungetreuen Diener zu sein, die sich gar nicht untreu vorkamen, weil sie meinten, daß die Krone – ob im Reich oder Preußen – nicht in den Gegensatz zum bürokratischen Dienstweg geraten und unter keinen Umständen die Autorität der königlichen Verwaltungsbehörden oder der Reichsämter schwächen dürfe. Der königliche Verwaltungsstaat nahm für sich die Majestät in Anspruch und strebte danach, die königlich-kaiserliche auf ornamentale Zierleisten zu zurückzustutzen. Preußische Behörden, die durchaus mit einer königlichen Anregung, ja mit einem Befehl zu rechnen hatten, hielten schlichtweg jede königliche Empfehlung für eine Störung ihrer Sachgerechtigkeit. Kanzler konnten ohnehin jeden Einfluß des Kaisers abwehren, weil er im Reich nur über sie und den Bundesrat eine formelle Bedeutung besaß. Minister und Beamte gewöhnten sich an, den König oder Kaiser nur über das allernotwendigste zu informieren und ihn für ihre Interessen, die sie mit den nationalen verwechselten, zu manipulieren. Kaiser Wilhelm wurde darüber zuweilen sehr unwillig. Aber das ließ er nicht nach draußen dringen.

Er war eine vornehme und durchaus königliche Natur, die schweigend lieber sich ins Unrecht setzte als seine irrenden Minister oder Bürokraten zu kritisieren. Als König von Preußen und deutscher Kaiser hat er die Torheiten begangen, die seine Kanzler von ihm verlangten, vor denen er sie warnte und mit denen sie ihn anschließend belasteten, von der Krüger-Depesche über die Landung in Tanger bis zum Panthersprung nach Agadir. Gleichwohl konnte er aber in aller Öffentlichkeit gerügt und zur Ordnung gerufen werden. Das hielten Beamte bei der starken Individualität moderner Herrscher für unvermeidlich. Erstaunlicherweise konnte selbst heftigste Kritik, wie 1908 bei der Daily Telegraph Affäre, die Popularität des Kaisers nicht erschüttern. Weil die Deutschen zunehmend an den Fähigkeiten ihrer Politiker zweifelten, wollten sie nicht auch noch am Kaiser verzweifeln. Ein persönliches Regiment hat es nie gegeben oder eine Nebenregierung unverantwortlicher Ratgeber. Das sind zähe Gerüchte, von denen verbreitet, die nicht in den Vorzimmern des Kaisers oder seiner Kanzler reüssierten.

Maximilian Harden, der unerbittlichste Kritiker des Kaisers, dem es endlich gelang, Freunde des Kaisers wie den Fürsten Eulenburg zu erledigen, hatte nichts gegen indirekte Einflußnahme. Er hatte nur etwas dagegen, nicht zu den Ratgebern des Kaisers gehören zu dürfen. Harden hatte sich lange darum bemüht, und viele seiner Freunde wie der Reeder Albert Ballin setzten sich in der Umgebung des Kaisers dafür ein, seinen Rat nicht gering zu schätzen. Es gab immer Versuche, über den Zugang zum Kaiser Einfluß zu gewinnen. Seine Kabinettschefs, korrekte Beamte, paßten von vorneherein auf und warnten den Kaiser. Sie gehörten zu den wenigen zuverlässigen Mitarbeitern. Auch sogenannte Freunde des Kaisers, wie Albert Ballin, gestanden, nie mit dem Kaiser ehrlich gesprochen zu haben. Sie intrigierten gegen Kanzler, gegen Botschafter oder Minister, meist erfolglos, weil Wilhelm II. seinen Mitarbeitern die königliche oder kaiserliche Loyalität wahrte. Es sei denn, sie hatten wie die Kanzler keine Mehrheit mehr im Reichstag. Obschon der Reichstag keinen Kanzler stürzen konnte, hatte es sich doch schon unter Bismarck so ergeben, daß bei fehlender parlamentarischer Mehrheit Neuwahlen anberaumt wurden oder der Kanzler, wie Bismarck selber, zurücktreten mußte.

Der Kaiser war auf die Dauer sehr enttäuscht, wenigen vertrauen zu dürfen. Was ihn aber nicht niederdrückte, die Hoffnung zu verlieren, aufrichtige Ratgeber zu finden. Das war nicht zuletzt der Grund für seine ungemeine Neugierde auf Menschen, hungrig nach Information und begierig, Anregungen zu empfangen, die er gegebenenfalls weitergeben konnte. Er begnügte sich mehr und mehr damit, anregend zu wirken. Doch Behörden, die dazu da sind, ihrerseits anzuregen, lassen sich sehr ungern auf die Sprünge helfen. Ein wichtiges Mittel des Kaisers waren seine Reden.

Wilhelm II., der tatsächlich ein deutscher Kaiser sein wollte, reiste kreuz und quer durch das Reich, um mit seiner Person allen Teilen des Reiches ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zu verschaffen. Seine Regierungszeit ist eine ununterbrochene Tour d’Allemagne, in Anlehnung an die Tour de France, die eingeführt wurde, um den Franzosen einen geistigen Begriff ihrer territorialen Einheit zu vermitteln. Kaiser Wilhelm war damit ungemein erfolgreich. Die Nation wurde durch seinen Einsatz erst zur Wirklichkeit. Ein Kaisertag war seitdem der Höhepunkt in der städtischen Geschichte. Wo immer er hinkam, wurde er zum festlichen, unvergeßlichen Ereignis, was heute den meisten Städten ziemlich peinlich ist.

Wo er hinkam, mußte er selbstverständlich reden. Im bürgerlichen Deutschland durfte, trotz Chören, Ehrenjungfrauen, Schützen oder Trachtengruppen, bei einer festlichen Gelegenheit die Rede nicht fehlen. Bürger feierten viel und gerne in dazu gehörenden Vereinen, und sie redeten viel und gerne, markig – erhebend und poetisch beschwingt. Der Kaiser beherrschte virtuos die Tonlagen des bürgerlichen Geschmacks – schließlich hatte man ihn zum Bürger erzogen – und war ein gesuchter Redner. Da er eine breite Bildung empfangen hatte, unendlich viel wußte, dauernd neues aufnahm, sich für alles interessierte und auf vielen Gebieten sogar sehr gut Bescheid wußte und seinerseits Anregungen zu geben vermochte, konnte eine Kaiserrede unbedingt zu einem Ereignis oder Erlebnis werden. Die Kaiserreden sind heute berüchtigt wegen unbedachter Wendungen. Erstaunlich ist aber nicht, daß diese vorkommen, überraschend ist, daß es bei der Menge an Reden, die er hielt, gar nicht so viele peinliche Stellen gibt, sonst würden nicht immer die wenigen und stets gleichen Stellen als Vorwurf wiederholt.

Wilhelm II. sprach frei, was heißt, er hatte den Text auswendig gelernt, der ihm meistens empfohlen und vorgeschrieben wurde. Zuweilen ließen die Behörden ihn auch politische Risiken eingehen, um zu sehen, ob Richtungsänderungen begrüßt würden oder nicht. Auf jeden Fall war der Kaiser nicht selbständig und unkontrolliert bei seinen Reden, die zuweilen von seinen besten Mitarbeitern redigiert oder entworfen wurden. Ein Adolf von Harnack, der große Theologe und umfassend versierte Gelehrte, Friedrich Althoff, der Wissenschaftspolitiker, Wilhelm von Bode der Museumschef oder Friedrich Schmidt-Ott im Preußischen Kultusministerium waren hervorragende Stichwortgeber. Sie waren alle nicht unumstritten, so daß mancher Unmut über eine Kaiserrede eigentlich deren Urhebern oder Verfassern galt. Immerhin ist es seit Kaiser Wilhelm deutscher Brauch, daß das Staatsoberhaupt ununterbrochen redet. Schweigende Bundespräsidenten sind mittlerweile eine Unmöglichkeit. Alle Präsidenten von Theodor Heuss angefangen, der unter dem Kaiser seine Bildungsepoche erlebte, üben sich unverdrossen in der Nachfolge Wilhelms des Redseligen. Blieb Theodor Heuss am besten in Erinnerung, so ist das nicht verwunderlich: Er beherrschte den wilhelminischen Ton, der vieler Nuancen fähig war, und seine Reden sind ein letztes Zeugnis davon.

Friedrich Theodor Althoff

Wenn Wilhelm II. schon darunter litt, nicht selbständig handeln zu können, wie jeder Unternehmer oder Gelehrter in seinem Institut, wenn er überall auf Bedenken, Hemmungen und Einschränkungen stieß, die ein reichbegabtes Individuum irritieren müssen, so blieb es ihm doch nicht versagt, unter dem Schutze seiner Fürsprache und Autorität, anderen dazu zu verhelfen, ihre Genialität ungehindert zu entfalten. In Friedrich Althoff, Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium, fand er seinen „Bismarck der Wissenschaftspolitik“. Beide waren davon überzeugt, daß deutsche Weltgeltung, wirtschaftlich, politisch und militärisch, ganz und gar von der geistigen Originalität abhänge, von den hervorragenden Leistungen deutscher Wissenschaftler und Künstler, von den Schulen und Universitäten, technischen Hochschulen und Berufsakademien. Unter Wilhelm II. war Preußen und unter seinem Einfluß das Deutsche Reich das Vorbild für alle Bildungs- und Wissenschaftspolitiker in Europa, Amerika oder Japan.

Friedrich Althoff, den Amerikaner als den bedeutendsten Mann der Gegenwart würdigten, dachte nicht an unmittelbare Nützlichkeit oder an eine Universität als Kaufhaus und Rathaus des Tages. Er dachte an den freien Geist, der forschend weht, wohin ihn seine suchende Neugierde treibt. Höchstens Adolf von Harnack besaß einen ähnlich souveränen Überblick über die gesamte Wissenschaft und ihre weitere Entwicklung. Den berief Wilhelm II. gegen den Widerstand der Fakultät nach Berlin. Eine seiner glücklichsten Entscheidungen. Althoff und Harnack ergänzten einander, napoleonisch zugreifende Herrschernaturen, großartige Organisatoren, die ganz sachlich an die Wissenschaft dachten und zugleich als Bildungsimperialisten an die werbende Anziehungskraft des Reiches mit seinen vorbildlichen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen. Althoff vor allem galt als Despot, weil er sich aus den professoralen Intrigen und Cliquen heraushielt und deren Macht brach. Er konnte zupacken und ordnen, weil Wilhelm II. als König von Preußen ihm immer den Weg frei hielt. Althoff war ein loyaler Beamter, der als autoritäre Natur wußte, nur mit Hilfe des Königs und Kaisers herrschen zu können. Und Wilhelm II. wußte, nur mit ihm Preußen und Deutschland seine Geltung als geistige Weltmacht erhalten zu können. Althoff, ein sachlicher Bürger, der nie geadelt werden wollte, ist vom Geist und der Durchsetzungskraft der wichtigste Vertreter des Wilhelminismus. Adolf von Harnack konnte den Wissenschaftler und den Hofmann vereinen, insofern ist er der elegante Wilhelminist.

„Zukunft auf dem Wasser“: Katholische Kirche in Tsingtao (China), erbaut von deutschen Kolonialisten (Foto 2005)

Weltgeltung drückte sich damals in einer Flotte aus – heute in dem Besitz atomarer Waffen. Das revolutionäre Deutschland von 1848 verlangte nach einer Flotte. Der sogenannte Wilhelminismus – in vieler Hinsicht der Erfüller fast sämtlicher Erwartungen der 1848er, vor denen der Kaiser keine Furcht hatte und die er zu seinen Ministern machte – erfüllte den Deutschen ihren Traum von der deutschen Flotte. Kaiser Wilhelm konnte gar nicht unpopulär werden, solange er einer Nation in Matrosenanzügen versicherte, daß ihre Zukunft auf dem Wasser liege, gewährleistet durch den freien Seehandel – und das wilhelminische Deutschland wurde zu einer Seefahrernation – oder der Flotte, die den Handel wie die Nation schützt. In Alfred von Tirpitz fand er den Organisator, ein wie Althoff oder Harnack napoleonisches Temperament, der die deutsche Flotte – unabhängig von preußischer Zwischenrede, vor der ihn König Wilhelm II. von Preußen schützte – als ein technisch- wissenschaftliches, weltweit bewundertes Meisterstück aufbaute, mit dem alte nationale Ideen und allerneueste wissenschaftliche Erfindungen sich zu einer Symbiose verbanden.

Der Kaiser auf seiner Yacht 'Hohenzollern'

Die heute umstrittene Flotte wurde damals als Ausdruck deutscher Kraft und Modernität, der in die Welt ausgreifenden, der Zukunft vertrauenden Deutschen verstanden. Sie begeisterte als nationales Programm den Arbeiter wie den Industriekapitän und dessen professoralen Schwiegersohn. Gemäß seiner eigenen Erziehung hoffte Wilhelm II. im Marineoffizier auf einen neuen Adel, der bürgerliche Herkunft, technische Effizienz, Bildung und Ritterlichkeit miteinander verschmolz. Das waren keine reaktionären Pläne. Aber reaktionär war dieser assoziationsfrohe Kaiser nie, der ja wegen ganz überraschender Einfälle weltweit Aufmerksamkeit erregte. Der modernste Komponist seiner Zeit – Richard Strauss – war sein Hofkapellmeister. Er fand dessen Musik scheußlich, aber er ließ ihn gewähren, solange der kaisertreue Operchef ihn nicht darum betrog, Mascagni oder Leonvavallo zu hören.

Wilhelm II. befreite sich viel rascher, wenn es ums Bauen ging, vom ästhetischen Wilhelminismus der Zuckerbäcker, Industriellen oder Hoteliers. Er geriet seit 1904 unter den Einfluß von Hermann Muthesius, dem ästhetischen Reformator, den er zum jüngsten Geheimrat in der preußischen Geschichte machte. In Übereinstimmung mit ihm förderte er Peter Behrens, Hans Poelzig, sogar Bruno Paul. Der hatte ihn im Simplizissimus verspottet. Aber der Kaiser war nicht nachtragend. Wilhelm II. fand vieles fürchterlich, wie die Mehrheit unter den Bildungsbürgern, was als Kunst galt. Er mahnte und warnte, völlig einig mit den Bildungsbürgern. Dennoch wurde Berlin zur aufregendsten Kunststadt neben Wien und Petersburg, den beiden anderen Metropolen des monarchischen Prinzips und der sich überstürzender Modernismen und ästhetischen Umbrüchen oder Revolutionen.

Die größte Leistung des Kaisers, der so vielen Hemmungen unterworfen war, besteht darin, wie Goethe es an Mirabeau rühmte, durch andere gewirkt und im übrigen keinen gehemmt und behindert zu haben. Deswegen wurde das wilhelminische Deutschland zu einer Epoche, die nur mit dem perikleischen Athen, dem augusteischen Rom, dem Rom der Renaissancepäpste oder dem Zeitalter Ludwigs XIV. zu vergleichen ist.