Deutschlands großer Sprung nach vorn

Das vergessene Goldene Zeitalter:
Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur im Deutschen Kaiserreich

Im Kaiserreich unter Wilhelm II. erlebte Deutschland eine Glanzzeit; sie endete erst 1914 jäh mit Beginn des Ersten Weltkrieges. Bis dahin gab es bahnbrechende Erfolge in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur – und Deutschland wurde zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Heute verbinden wir mit diesem sprichwörtlich Goldenen Zeitalter in erster Linie Militarismus und Untertanengeist – ein leichtfertiges und grotesk eindimensionales Urteil, wie die folgenden Fakten zeigen.

Wirtschaft
Die Handelshochschule in Berlin-Mitte, erbaut 1904

Die wilhelminische Gesellschaftsordnung bot neben einem hohen Maß an politischer Freiheit auch einen Rahmen, in dem sich die gesamte wirtschaftliche Freiheit voll entfalten konnte. Milton Friedmans (Ökonom und Nobelpreisträger, 1912–2006) Diktum, wonach sich politische und wirtschaftliche Macht in einer solchen Ordnung trennen und sich gegenseitig neutralisieren, trifft auf das damalige Wirtschaftssystem durchaus zu.
Hohenzollern-Deutschland war als konstitutionelle Monarchie ein Rechtsstaat, in dem Wirtschaft und Bildung eine bis dahin unerreichte Blütezeit erlebten.

Nüchterne volkswirtschaftliche Kennziffern – auch im internationalen Vergleich – sprechen eine deutliche Sprache:
Die durchschnittliche deutsche Arbeitslosenquote zwischen 1871 und 1914 betrug lediglich 1-2% (zum Vgl.: Großbritannien: 5-10%, Frankreich: 6-10%). Das durchschnittliche Wachstum der Wirtschaft zwischen 1896 und 1913 lag bei 3,4% jährlich.
Die Preise verhielten sich, bedingt durch den Goldstandard (offiziell seit 1.6.1909, in praxi schon seit 1875/76) und die geringe Staatsverschuldung, stabil, was sich auch anhand der Preissteigerungsrate ablesen läßt: Die jährliche Inflation zwischen 1871 und 1914 betrug gerade einmal 0,48%.

Ein buchstäblich „Goldenes Zeitalter“! 20-Mark-Münze mit Porträt Wilhelms II. und Reichsadler, Prägejahr 1902

Einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die weitgehend freien Wettbewerb, Rechtssicherheit, Privateigentum und Gewerbefreiheit gewährte, stand eine auf Effizienz und Effektivität hin orientierte Staatsverwaltung gegenüber. Auf 65 Millionen Einwohner im Deutschen Reich kamen 1891 nur 600.000 Verwaltungs- und Justizbeamte. Die Steuerlast pro Kopf war auch im Vergleich zu der Großbritanniens oder Frankreichs niedrig; der Staat hielt sich mit Eingriffen in die Wirtschaft eher zurück, so betrug die Staatsquote im Kaiserreich lediglich 14% (heute 45%).
Die Quote der Selbständigen war enorm hoch, die Unternehmen verfügten im Durchschnitt betrachtet über eine gute Eigenkapitaldecke. Der Grad der außenwirtschaftlichen Verflechtung in Europa erreichte eine Intensität, die erst wieder in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erreicht wurde. Dies betrifft auch Schlüsselbranchen wie die Montanindustrie.

Dabei ist zu ergänzen, daß das damalige Deutschland mit gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen fertig werden mußte. Der rasante Übergang von einem Agrarstaat zu einem Industriestaat, das stetige Bevölkerungswachstum (1871: 40 Millionen Einwohner, 1914: ca. 68 Millionen Einwohner in Deutschland) sowie die zunehmende Internationalisierung des Warenverkehrs stehen stellvertretend für den epochalen Modernisierungsschub des Kaiserreichs:

„Modernität des Wilhelminismus“ (Wolf Jobst Siedler): Glühlampenfabrik der AEG in Berlin-Moabit, erbaut 1904-12

“Während die Landwirtschaft ein Sorgenkind des Kaiserreichs blieb, setzte in den [18]80er Jahren ein enormes Wachstum der Industrie ein. Das galt nicht nur für die Schwerindustrie, sondern vor allem für neue Industriezweige. So wurde die Elektroindustrie durch bahnbrechende Erfindungen, wie des Elektromotors und der Glühlampe, beflügelt. Alles in den Schatten stellte die chemische Industrie. Das von Bayer produzierte Schmerzmittel Aspirin wurde zum globalen Verkaufsschlager. Zu Beginn der 80er Jahre verfügte die chemische Industrie Deutschlands auf dem Weltmarkt über einen Anteil von fünfzig Prozent, der bis zur Jahrhundertwende auf neunzig Prozent gesteigert werden konnte.
Einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung leistete das Bankensystem. Zu der Vielzahl kleiner und kleinster Privatbanken kamen seit Beginn der [18]70er Aktienbanken, die sich zu Großbanken entwickelten. Sie versorgten in dem kapitalarmen Deutschland die Industrie mit den nötigen Krediten.
[…] So schrumpfte der Abstand zur ersten Wirtschafts- und Handelsmacht England rapide. Bis 1914 hatte Deutschland den britischen Konkurrenten fast eingeholt und in zukunftsträchtigen Industrien weit hinter sich gelassen.“
(Ralf Georg Reuth: Deutschlands vergessene Blütejahre. In: Welt am Sonntag, 15.01.2006)

Die wirtschaftliche Prosperität des Kaiserreichs war kein auf die Oberklasse beschränktes Phänomen. Schon dem jungen Kaiser Wilhelm II. lag viel daran, gerade auch die Arbeiter als „Vierten Stand“ in das neue Deutschland zu integrieren.

Margarethen-Siedlung in Essen, gestiftet von Margarethe Krupp im Jahre 1906
Der Monarch verfolgte vor allem in den ersten Jahren nach seinem Herrschaftsantritt den Kurs eines sozialen „Volkskaisertums“, das eine Ausbeutung der unteren Schichten durch die Industrie eindämmen sollte, was – trotz mancher Inkonsequenz seitens der Regierung und bleibender gesellschaftlicher Spannungen – gelang.

Golo Mann beschreibt die damalige Situation so: „Die wirtschaftliche Blüte kam, solange sie dauerte, den breiten Volksmassen zugute. Bewundernswertes in der Förderung des Gesunden und Schönen leistete die Selbstverwaltung der Kommunen. Von weither kamen die Fremden, die in der geistreichen Arbeitswelt Berlins, in der behaglich freieren, gastlichen Atmosphäre Münchens oder Dresdens zu leben wünschten. Auf die Errungenschaften des liberalen Zeitgeistes war Verlaß. Mochte das Beamtentum rauhbeinig sein, es kannte seine Pflichten und die Rechte der Bürger. […] Das Deutsche Reich war damals ein in seiner Wirklichkeit ungeheuer starker, konzentrierter, von dem Motor einer machtvollen Industrie vorwärtsgetriebener Nationalstaat.“
(Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt 2004, S. 499)

Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Kaiserreichs schuf breiten Wohlstand. Dieses – in der Retrospektive – „goldene Zeitalter“ fand erst mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges ein jähes, aber keineswegs zwangsläufiges Ende.
Der Brite Niall Ferguson meint: „Ganz sicher kann man heute nicht mehr die Ansicht vertreten (wie es Marxisten lange getan haben), der Erste Weltkrieg sei die Folge einer Krise des Kapitalismus gewesen, denn er beendete im Gegenteil eine Periode außergewöhnlicher globaler Wirtschaftsintegration, mit relativ starkem Wachstum und niedriger Inflation.“
(Niall Ferguson: Krieg der Welt. Berlin 2006, S. 15)

Rechtsordnung
Ausgabe des BGB aus der Kaiserzeit

Am 1.1.1900 trat das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in Kraft, die erste einheitliche Grundlage für eine reichsweite Zivilrechtssprechung. Es regelte die Rechtsverhältnisse „natürlicher“ und „juristischer“ Personen untereinander.

Der Kaiser gab selbst wichtige Anregungen für dieses Werk und schaltete sich des öfteren in den Erstellungsprozeß ein.

Dank der begrifflichen Präzision und des systematischen Aufbaus in einem dennoch überschaubaren Rahmen, der eine flexible fallbezogene Handhabung durch den Richter ermöglichte, wurde es weltweit zum Vorbild. Selbst heute basieren wesentliche Teile des BGB auf dem Fundament aus der Kaiserzeit.

Bildung und Wissenschaft
Lichthof der Münchener Universität, erbaut 1905-1909 vom Berliner Architekten German Bestelmeyer

Eine entscheidende Ursache dieses „ersten deutschen Wirtschaftswunders“ (Ehrhardt Bödecker) lag in dem modernen und leistungsfähigen Bildungswesen der wilhelminischen Epoche. Das dreistufige Bildungssystem (Volksschule, Realschule, Universität) erwies sich als zeitgemäß und effizient, da es nicht nur gesellschaftlichen Eliten zugute kam, sondern in der Breite wirkte und damit den immensen Bedarf einer jungen dynamischen Wirtschaftsmacht an gutausgebildeten Menschen erfüllen konnte.
Die deutsche Analphabetenquote betrug um die Jahrhundertwende weniger als 1% (Frankreich: 10%, USA: 12%, England 9,6%). Entscheidende Weichenstellungen für die Schulpolitik waren die beiden Schulkonferenzen von 1890 und 1900, die beide auf Initiative des Kaisers zustande kamen und seine modernen Ideen in der Lehrplangestaltung berücksichtigten.

Besonders die Universitäten des Kaiserreichs gehörten zu den modernsten wissenschaftlichen Einrichtungen der damaligen Welt. Von 1901 (erstmalige Verleihung des Nobelpreises) bis 1918 ging mehr als ein Drittel (insgesamt 21!) aller Nobelpreise für wissenschaftliche Arbeiten an Forscher aus dem deutschen Kaiserreich.

Albert Einstein in seinem Arbeitszimmer im Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin

Berlin galt als Weltzentrum der Physik. Max Planck holte 1914 Albert Einstein an die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin, wo er 1915 die allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, vor allem in der Grundlagenforschung, hatten deutsche Forscher alle anderen Länder überflügelt.
Namen wie Emil Behring und Paul Ehrlich (Medizin), Max Planck und Albert Einstein (Physik) oder Otto Hahn (Chemie) stehen stellvertretend für eine „Nation im Rausch der Erkenntnis“. Studienaufenthalte in Deutschland waren international begehrt – in manchen naturwissenschaftlichen Fächern waren bis zu 30% der Studenten aus dem Ausland. Besonders intensiv war der Wissensaustausch mit den USA, wo Forschung und Lehre sowie die Organisationsstruktur deutscher Hochschulen zum Vorbild genommen wurden. Deutsch galt als weltweite Wissenschaftssprache.

Die Grundlage dieser Erfolge waren in erster Linie die hervorragenden institutionellen Rahmenbedingungen sowie die bahnbrechende Aufbauarbeit des „Bismarck des Hochschulwesens“, Ministerialdirektor Friedrich Theodor Althoff. Er konnte sich während seines jahrzehntelangen Wirkens (1882-1907) stets größter Sympathie und Rückhalts bei Wilhelm II. sicher sein. Der wissenschaftsbegeisterte Kaiser hatte zweifellos die Zeichen der Zeit erkannt und forderte von Anfang ein praxisnahes und zeitgemäßes Bildungswesen:
„Wir stehen an der Schwelle der Entfaltung neuer Kräfte. Das neue Jahrhundert wird bestimmt durch die Wissenschaft, inbegriffen die Technik, und nicht wie das vorige durch die Philosophie. Dem müssen wir entsprechen.“

Dem zielgerichteten wissenschaftspolitischen Engagement Wilhelms II. folgte die Durchsetzung des Universitäts-Charakters der technischen Hochschulen (TH Danzig, TH München, TH Breslau, etc.), die 1899 das Promotionsrecht und eine Rektoratsverfassung erhielten. Damit waren sie den klassischen Universitäten gleichgestellt.

Das „System Althoff“ beruhte auf gezielter Auswahl und Förderung von wissenschaftlichen Talenten, der geschickten Bündelung unterschiedlichster Interessen (Industrie, Professoren, Staat) und der Unterstützung durch den Monarchen. Die Anstrengungen Althoffs finden ihren Höhepunkt in der Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ (KWG, Sitz in Berlin-Dahlem) im Jahre 1911, zwei Jahre nach Althoffs Tod. Genau drei Monate vorher hatte Kaiser Wilhelm II. aufgerufen, unter kaiserlichem „Protektorat und Namen eine Gesellschaft zu gründen, die sich die Errichtung und Erhaltung von Forschungsinstituten zur Aufgabe stellt“.

Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, gegründet 1911. Heute Otto-Hahn-Bau der FU Berlin

Diese Institution beruht auf dem – damals revolutionären – Ansatz einer Forschungsvereinigung, die größtenteils durch privates Mäzenatentum aus der Industrie mit teilweiser Unterstützung des Staates finanziert wird: eine Forschungseinrichtung völlig neuen Zuschnitts, die keine Verpflichtung zur Lehre kennt und außerhalb der Universitäten spezialisierte, meist um eine Koryphäe ihres Faches gebaute, Institute umfaßt (z.B. Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, Leitung: Otto Hahn, Doyen der deutschen Kernphysik. Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik, Leitung ab 1917: Albert Einstein).
Gemeinsames Ziel dieses „deutschen Oxfords“ war es, der heimischen Wissenschaft eine Spitzenposition in der Welt zu verschaffen.
Erster Präsident der KWG war der Theologe Adolf von Harnack, ebenfalls ein Vertrauter des Kaisers (ihm folgte 1930 Max Planck).
1946 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgelöst und zwei Jahre später unter dem Namen „Max-Planck-Gesellschaft“ wiedergegründet. Aus keiner anderen Institution gingen bis heute mehr Nobelpreisträger hervor.

Grundsteinlegung des Deutschen Museums in München durch Wilhelm II. (1906): Museum der Technikgeschichte

Die Verbreitung der technischen Wissenschaften galt dem Kaiser als „vornehmste landesherrliche Pflicht“. Der Monarch agierte als Brücke zwischen den traditionellen Elementen des Reiches (Heer, Beamtentum, Altpreußen, Junkeradel) und den wissenschaftlichen–technischen Neuerungen der Zeit. Es gelang – trotz der ihm oft zugeschriebenen Unstetigkeit und Oberflächlichkeit – eine insgesamt fruchtbare Symbiose von Alt und Neu.

Der Kaiser verfügte über „ein durchaus profiliertes und für sich stehendes bildungs-, hochschul- und wissenschaftspolitisches Engagement, dessen Spannweite und Intensität von keinem anderen zeitgenössischen Monarchen gehalten wurde. Auf diesem Gebiet waren die kaiserlichen Impulse effektiv, produktiv und teilweise außerordentlich innovativ“.
(Frank-Lothar Kroll: Preußens Herrscher. München 2000, S. 303)

Weltweite Aktivitäten

Bisweilen erreichten diese Impulse sogar die Grenzen der damals bekannten Welt: In den Jahren 1901-1903 finanzierte der Kaiser die erste deutsche Südpolexpedition unter der Leitung des Geographen Dagobert von Drygalski mit 1,2 Millionen Goldmark. Das dabei erkundete arktische Territorium (Februar 1902) wurde konsequenterweise „Kaiser-Wilhelm-II.-Land“ genannt, (87°3' Ost und 91° 54' West), heute ist es Teil des australischen Antarktis-Gebietes. Eine zweite deutsche Expedition (1911/1912), die die Durchquerung des „weißen Kontinents“ zum Ziel hatte, scheiterte.

Deutsch-amerikanische Seeverbindung

Generell war die deutsche Präsenz auf den Weltmeeren in der wilhelminischen Epoche von überragender Bedeutung: Nicht nur eine starke Flotte, sondern gerade auch die weltweite Handelsschiffahrt waren Voraussetzung für „Weltgeltung“ des Landes.

Regelmäßig abgehende Dampfschiffe verbanden die deutschen Häfen mit den entlegensten Ecken der Welt und wurden neben Eisenbahntrassen und Telefonleitungen zu den Lebensadern einer bemerkenswerten internationalen Arbeitsteilung.

„Das Interesse des Kaisers galt vor allem der Passagierschiffahrt. Hier verlief die Entwicklung besonders dynamisch und wurden die größten Schiffe überhaupt gebaut. Während der Regierungszeit Wilhelms II. wuchsen die größten Passagierschiffe von etwa 10.000 auf 50.000 Tonnen.
Die beiden großen deutschen Reedereien, der Norddeutsche Llyod (NDL) in Bremen und die Hamburg-Amerikanische Pacetfahrt-Actiengesellschaft (HAPAG) in Hamburg, gehörten zu den weltweit größten Schiffahrtsunternehmen. Als der amerikanische Bankier J.P. Morgan nach der Jahrhundertwende mit seinen Plänen für einen großen Schiffahrtskonzern deren Selbständigkeit zu bedrohen schien, rief dies den Kaiser auf den Plan, der auf ein von ausländischen Einflüssen unabhängiges Reedereigeschäft Wert legte.“
(Wolfgang König: Wilhelm II. und die Moderne. Paderborn 2007, S. 45)

Wilhelm II. (links) und Albert Ballin

Einer, der die Zeichen der Zeit erkannte und eindrucksvoll nutzte, war der jüdische Hamburger Reeder und dynamische Vorzeige-Unternehmer par excellence Albert Ballin (1855-1918), der – aus einfachen Verhältnissen kommend – aus der HAPAG die größte Reederei der Welt machte. Ballin war wie andere Wirtschaftsführer (Friedrich Albert Krupp, Emil Rathenau) und Ingenieure (Funktechniker Adolf Slbay, Maschinenbauer Alois Riedler, Wasserbauer Otto Intze und Photochemiker Adolf Miethe) einer der engsten Vertrauten aus dem technisch-industriellen Umfeld des Kaisers.

Kultur und Gesellschaft: Nur ein „Unter­tanen­staat“?

Plakative Schlagworte sind der Treibstoff allen Geschichte-Erzählens. Jedoch ist es ganz hilfreich, zuweilen die Fakten in Augenschein zu nehmen, um das eine oder andere tradierte Urteil einem „Praxistest“ zu unterziehen. Kaum ein Vorurteil hielt sich so lange wie die
Sage von der illiberalen und repressiven Gesellschaft im deutschen Kaiserreich
(Tilman Krause: Unter Wilhelm Zwo war es gar nicht so. In: Die Welt, 27.05.2006).
Denn unvoreingenommene Historiker gestehen der wilhelminischen Epoche durchaus eine „zeittypische Modernität“ zu.

So pflegte das Kaiserreich einen – für damalige Verhältnisse – großzügigen Umgang mit Minderheiten. Der renommierte britische Historiker Niall Ferguson kommt in seinem neuesten Werk zu dem Urteil: „In der Tat litten die Juden im Kaiserreich unter keinerlei gesetzlicher Diskriminierung, und der Zugang zu Bildung und Berufsleben stand ihnen mindestens so weit offen wie anderswo in Europa.“ (Niall Ferguson: Krieg der Welt. Berlin 2006, S. 147).
Die führenden Verleger der Zeit waren jüdischer Herkunft: Mosse, Ullstein, Singer, Sommermann, Fischer.

Ausstellung moderner Kunst 1900 in Berlin

Die Medienlandschaft des Kaiserreichs war von außergewöhnlicher Pluralität geprägt:
Um 1900 erschienen in Deutschland 1.200 Zeitungen, Magazine und Zeitschriften, darunter über 100 Tageszeitungen, 65 mit klar politischer Ausrichtung. Selbst während des Ersten Weltkrieges konnte beispielsweise die englische „Times“ in Berlin von jedermann gekauft werden.

Auch wenn der Kaiser selbst mit der modernen Kunst wenig anzufangen wußte (sie war ihm zu destruktiv), so konnte sich dennoch eine moderne Kunstszene ganz offen etablieren: Die Berliner Secession um Max Liebermann, die ab 1905 eine Ausstellungshalle mitten am Kurfürstendamm bezog, zeigte Kunstwerke von Käthe Kollwitz, Max Beckmann, Paul Klee, Wassily Kandinsky und Pablo Picasso und machte Berlin zur modernen Kunstmetropole.

Fazit

Das Kaiserreich kann nicht pauschal auf einen „Untertanen- und Militärstaat“ reduziert werden. Die 30jährige Regierungszeit des letzten Deutschen Kaisers bedarf eines differenzierteren Urteils.

Logo der 1891 gegründeten Stanford University (Kalifornien). Der noch heute vorhandene deutsche Leitspruch sollte die damals führende Stellung des Deutschen in der Wissenschaft versinnbildlichen.

David Fromkin, Geschichtsprofessor an der Boston University, schrieb: „Ein Porträt von dem Deutschland vor gut 100 Jahren wäre nicht vollständig, wenn man nicht seine hervorragende kulturelle und wissenschaftliche Stellung erwähnen würde. 'Einsteins Deutschland', wie Fritz Stern es genannt hat, war bereit, die Welt in der Lehre und in den Wissenschaften anzuführen. Es brachte großartige Werke der Literatur und der Musik hervor. Deutsch war die Sprache der Wissenschaft. Wer sich Hoffnungen auf eine Karriere in der Philologie machte, in der Philosophie, der Soziologie oder den Naturwissenschaften, war gut beraten, eine deutsche Universität zu besuchen. Die Deutschen waren das wohl kultivierteste Volk auf der Welt. (David Fromkin: Europas letzter Sommer. München 2005, S. 85f.)

Selbst John C.G. Röhl, der schärfste Kritiker Wilhelms II. der letzten 30 Jahre, stellte fest: Dieses Kaiserreich war damals der erfolgreichste Staat der Welt: wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell, auch in sozialreformerischer Sicht.“ (Süddeutsche Zeitung, 4.6.2011)

Und der große jüdische Preußen-Kenner H.J. Schoeps kam vor über 30 Jahren zu dem Schluß:
„Bei einer historisch gerechten Würdigung des Kaisers, nach dem das Zeitalter seinen Namen hat, muß man eines wohl an die Spitze stellen: Ohne den Ausbruch der Weltkatastrophe von 1914, für die er nichts kann, würde das Urteil über seine Regierungszeit zweifellos günstiger ausfallen. (Hans-Joachim Schoeps in Otto-Ernst Schüddekopf (Hrsg.): Herrliche Kaiserzeit. Berlin 1973, S. 13)

„Als 1871 in Versailles das neue Deutsche Reich gegründet worden war, hatten die Schweizer eher skeptisch darauf reagiert. Preussen, die Führungsmacht, hatte keinen guten Ruf – die Republikaner verabscheuten das undemokratische Königreich.
Doch seither hatte Deutschland einen sagenhaften Aufschwung erlebt. Neben den USA war es bis vor dem Ersten Weltkrieg das dynamischste und modernste Land der Welt geworden: Seine Wirtschaft brummte, bald überholte sie die britische, vor allem die deutsche Wissenschaft genoss Weltruhm. Damals kamen die amerikanischen Studenten nach Deutschland, um zu studieren, nicht umgekehrt. Harvard kopierte die deutschen Vorbilder: Berlin, Heidelberg, Göttingen, Breslau. Es waren Namen, die klangen wie heute Yale, Stanford oder Princeton.
Niemand wurde in der Schweiz daher mehr bewundert als der deutsche Professor, der deutsche Ingenieur, der deutsche Unternehmer, aber auch der deutsche Offizier.“

— Markus Somm, Die Weltwoche (Zürich), 18.02.2010, S. 35