Christopher Clarks Monumentalwerk Die Schlafwandler ist zweifellos die wirkmächtigste der zahllosen Neuerscheinungen zum 1. Weltkrieg. Kein anderes Buch zum Thema hat eine solche Aufmerksamkeit erregt, über keines wurde mehr diskutiert. Inzwischen ist die 15. Auflage gedruckt, und bereits Anfang Mai waren in Deutschland 200.000 Exemplare des Buches verkauft.
Vor gut 50 Jahren hatte Fritz Fischer mit seiner These vom „Deutschen Sonderweg“ und der Behauptung der deutschen Hauptschuld am Ausbruch des 1. Weltkrieges die quasioffizielle Leseart vorgegeben, der seitdem fast alle deutschen Historiker von Rang und Namen unwidersprochen folgten – bis eben Clark seine „Schlafwandler“ vorlegte.
Es ist naheliegend, daß Clarks Werk und Wirkungsmacht für die etablierten Historiker eine gewaltige Provokation darstellten muß – schließlich wurde die bisher gültige Sichtweise, wie sie von den Historikern seit Jahrzehnten gleichsam ex cathedra gelehrt und stur verteidigt wurde, durch Clarks Forschungen widerlegt oder zumindest stark relativiert.
Die Historiker waren also herausgefordert, gleichwohl konnten sie Clarks Argumentation im Kern nicht wirklich widerlegen, dafür war sie zu schlüssig. Folglich verlagerte sich ihre Kritik zunehmend auf einen Nebenschauplatz, der freilich Clarks Werk in der Substanz treffen sollte: der Kritik an Clarks Quellenarbeit. Prof. Gerd Krumeich z.B. warf Clark vor, gerade die entscheidenden Dokumente, die Deutschland belasten würden, unterschlagen zu haben. Hans-Ulrich Wehler übte in der FAZ Quellenkritik an Clark und warf ihm Einseitigkeit vor.
Es ist in der Tat ein Kuriosum: Ausgerechnet Clark, der erstmals einen breiten Fokus hat und nicht nur Deutschland, sondern alle beteiligten Nationen im Blick behält, wird nun Einseitigkeit vorgeworfen! Gerade seine betont differenzierte Betrachtungsweise wird als zu einseitig gebrandmarkt – ein im Grunde lächerlicher, da widersprüchlicher Vorwurf, der nur offenbart, wie hilflos und dünnhäutig die angegriffenen Historiker reagieren. Entlarvend ist, daß diese letztendlich immer wieder auf Fritz Fischer verweisen und den Eindruck vermitteln, mit Fischer sei eben bereits alles zum Thema gesagt (siehe dazu auch Prof. John Röhls Artikel in der Süddeutschen Zeitung).
In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (15.06.2014, S. 4) nahm Clark nun ausführlich Stellung zur jüngsten Quellenkritik. Er betonte, sich seit langem intensivst mit Fritz Fischer auseinandergesetzt zu haben. Fischer sei auch durchaus zuzustimmen in der Beschreibung der Kriegsvorbereitung eines Teils der deutschen Elite. Aber man könne diese Kriegspläne einer Teilelite eben nicht auf den ganzen Staat beziehen, wie es Fischer und die meisten Historiker nach ihm getan haben. Zudem müßten auch die Motive und das Verhalten der anderen beteiligten Nationen berücksichtigt werden, sonst würden „die Zeitläufte der Weltgeschichte allein in Berlin bestimmt. Solche Ansichten teile ich nicht“.
Warum Clarks Werk eine derartige Provokation für die hiesige etablierte Historikerzunft darstellt, dafür liefert Clark im Interview selbst die Erklärung: „Es ist auch nicht überraschend, dass einige Historiker wütend werden. Sie haben ihr gesamtes Leben in eine bestimmte Interpretation investiert, und dann kommt jemand und stellt alles in Frage.“ Und: „Für die Deutschen gehört die Behauptung einer deutschen Allein- beziehungsweise Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zumindest in linksliberalen Kreisen seit Dekaden zur Grundausstattung ihres Geschichtsbewusstseins.“
Lesen Sie das ganze Interview mit Christopher Clark unter: www.faz.net/aktuell/politik/christopher-clark-im-gespraech-woher-wissen-sie-was-die-oesterreicher-traeumten-12990727-p2.html?printPagedArticle=true