Prof. Wolfgang Wippermann

Skandal im Jagdschloß Grunewald

Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich

Primus-Verlag 2010 168 Seiten 19,90 €

„Skandal im Jagdschloss Grunewald“

Nachdem sich durch die Veröffentlichungen der letzten Jahre gezeigt hat, daß man Wilhelm II. politisch nicht mehr für das ganze Elend des 20. Jahrhunderts verantwortlich machen kann, wird eine andere Anklage wieder aus der Mottenkiste geholt: Wilhelm II. und sein Umfeld sollen als moralisch verkommen entlarvt werden.
Ein Klassiker ist in diesem Zusammenhang die sogenannte Eulenburg-Affäre, die in die Jahre nach 1906 fällt, nachdem Maximilian Harden in einem Artikel auf homoerotische Neigungen im nächsten Umfeld des Kaisers angespielt hatte und damit eine Lawine lostrat, die einige Personen um ihren guten Ruf brachte. Entgegen der Auffassung heutiger Ankläger ging es Harden damals jedoch nicht darum, die Öffentlichkeit aufzuklären, um den Homosexuellen ein leichteres Leben zu ermöglichen. Es ging ihm gar nicht um Emanzipation, sondern schlicht darum, daß der seiner Meinung nach zu lasche außenpolitische Kurs des Kaiserreichs auf die homoerotischen Berater des Kaisers zurückzuführen sei. Dagegen wollte Harden vorgehen.

Daß die gesellschaftlichen Konflikte im ausgehenden 19. Jahrhundert anders gelagert waren als heute, hat sich offenbar nicht bis zu Wolfgang Wippermann herumgesprochen. Im neuesten Buch des Berliner Historikers, der 2009 eine „Dämonisierung“ der DDR beklagte, geht es um einen weniger bekannten Skandal im Kaiserreich, die sogenannte Kotze-Affäre. Da dabei vor allem Sex und Intrigen im Mittelpunkt stehen, haben Der Spiegel und die Frankfurter Rundschau die Vorlage Wippermanns gern angenommen und die Sache unter das Volk gebracht (damit dieses nicht zu lange ungeschützt der differenzierten Kaiserreich-Darstellung eines Christopher Clark ausgesetzt ist). Wippermann konstruiert zudem einen neuen Anklagepunkt: die Gender-Frage. Sie eignet sich besonders gut, um das Kaiserreich zu diskreditieren, weil wir gegenwärtig, nach Meinung der maßgebenden Experten, dabei auch erst am Anfang stehen. Also kann das Kaiserreich darin erst recht noch nicht sehr weit gewesen sein.

Der Skandal, um den es geht, dauerte von 1891 bis 1896. Wippermann macht sich die Auffassung zu eigen, daß er „die Grundfesten des sogenannten persönlichen Regiments Kaiser Wilhelm II. unterhöhlt und damit zum Untergang des deutschen Kaiserreichs beigetragen“ habe. Damit will Wippermann die Dimension dieses Falls verdeutlichen, zeigt aber gleich in der Einleitung Schwächen in der Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge. Wenn wir schon vom Persönlichen Regiment Wilhelms II. sprechen, so ist dieses Regiment erst mit der Ernennung Bülows zum Reichskanzler in seine wirkungsvollste Phase getreten. Das war im Jahre 1900, als der Fall, der das Regiment so nachhaltig geschwächt haben soll, schon ein paar Jahre zurücklag. Wippermann, der bislang eher durch Faschismus-Theorien u.ä. hervorgetreten ist, hat demnach keine intime Kenntnis der Geschichte, über die er uns aufklären will.

Den Fall habe er sich ausgesucht, weil ihn daran die „kultur- und geschlechtergeschichtliche Bedeutung“ interessiere. Er will deshalb den Skandal als „Faktor und Indikator des Wandels von Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich“ begreifen und analysieren. Das ist ein legitimes Anliegen. Fraglich ist, ob das Thema das auch hergibt. Wippermann möchte, wie er prophylaktisch (und selbstentlarvend) schreibt, „niemanden belehren, sondern – hoffentlich – viele unterhalten“ und ist der Auffassung, daß es „ein breites historisch interessiertes Publikum“ gibt, das Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt bekommen möchte“. Deshalb setzt er auf das Schlüsselloch als Zugang zum Kaiserreich.

Nun mag Wippermanns stillschweigende Annahme, daß man mit einem Sexskandal mehr Leser bekommt als mit einer nüchternen Analyse der tatsächlichen Verhältnisse, zwar stimmen. Doch gerade diese Leute werden sich den Spaß an solchen Geschichten nicht durch irgendwelche Genderspekulationen nehmen lassen.

Die Affäre (1891-1896)
Zeremonienmeister von Kotze

Der Skandal stellt sich folgendermaßen dar: Im Januar 1891 sollen sich 15, männliche und weibliche, Angehörige der Hofgesellschaft nach einer Schlittenfahrt im Jagdschloß Grunewald bei einem ausgelassenen Fest vergnügt haben. Die Vergnügen waren dabei auch, zumindest vermutlich, sexueller Natur. Einige Verwandte des Kaisers waren darunter, weiterhin Graf und Gräfin Hohenau, Baron von Schrader sowie Zeremonienmeister von Kotze, um nur die wichtigsten zu nennen. Das hätte wohl kaum jemanden interessiert, wenn nicht im Laufe des Jahres die Teilnehmer und andere Mitglieder des Hofstaats anonyme Briefe erhalten hätten, in denen auf das Geschehen im Schloß Grunewald bezug genommen wurde. Durch die Dienstboten verbreitete sich der Inhalt der Briefe in ganz Berlin, und einige Empfänger entschlossen sich, die Polizei einzuschalten. Die Ermittlungen galten dem Urheber der Briefe. Es haben sich von diesen über 200 erhalten, die teilweise mit pornographischen Bildern, die man aber an vielen Ecken Berlins kaufen konnte, versehen waren. Inhaltlich beschränken sich die Briefe auf Anschuldigungen wegen anstößigen Verhaltens der Ehefrauen in der Öffentlichkeit oder auf das homosexuelle Verhalten der Männer.

Klar war, daß der Autor bzw. Autorin der Briefe aus der nächsten Nähe des Kaisers stammen mußte und all die Empfänger der Briefe persönlich gekannt haben muß. Aufgrund eines Schriftgutachtens, das auf eine „krankhaft, weibische veranlagte Person“ (auch Frau war möglich) tippte, fiel der Verdacht auf den Zeremonienmeister von Kotze, der als „weibisch“ galt, weil er auf sein Äußeres übermäßigen Wert legte. Er wurde verhaftet und mußte bald, weil es während seiner Haft weitere Briefe gab, wieder entlassen werden. Kotze forderte Baron von Schrader, den er für den Urheber der Anschuldigungen hielt, zum Duell, das am 21. Januar 1895 unblutig endete. Kotze wurde auch von einem Militärgericht, vor dem er sich als Rittmeister verantworten mußte, freigesprochen. Er forderte daraufhin einen weiteren Kontrahenten zum Duell und wurde verwundet.

Anschließend reichte er Verleumdungsklage gegen Schrader ein, was dieser mit einer Duellforderung beantwortete, der Kotze nicht nachkam, weil er den Ausgang des Gerichtsverfahrens abwarten wollte. Daraufhin sprach ihm ein Ehrengericht der Rathenower Husaren die Ehre wegen Satisfaktionsverweigerung ab, was den Ausschluß aus dem Offizierskorps zur Folge gehabt hätte. Der Kaiser verwarf das Urteil. Als aber auch die Hannoverschen Ulanen zu einem ähnlichen Urteil kamen, akzeptierte der Kaiser es, milderte es aber entscheidend in eine Verwarnung ab, so daß Kotze wieder satisfaktionsfähig war und das Duell am Karfreitag des Jahres 1896 mit Schrader austragen konnte. Dabei erlitt Schrader einen tödlichen Treffer im Unterleib. Kotze mußte, da auf das Töten im Zweikampf Festungshaft stand, in die Festung Glatz, wurde aber bald begnadigt und zog sich auf seine Güter im Riesengebirge zurück, wo er 1920 verstarb.

Das Kaiserreich im Spiegel der Gender-Ideologie

Bis heute ist, da der Fall nie aufgeklärt wurde, völlig unklar, was damals im Jagdschloß tatsächlich vorgefallen ist. Offenbar kann es so schlimm nicht gewesen sein, sonst wären die Betroffenen nicht selbst zur Polizei gegangen. Schlimm waren nur die Anschuldigungen, die in den Briefen standen. Für Wippermann ist der Wahrheitsgehalt der Briefe erwiesen und der Inhalt über jeden Zweifel erhaben, ohne daß er dafür auch nur das geringste Indiz nennen kann. Die Geschichten, die kursierten, sind ihm „Beweis und Beispiel dafür, daß und wie sich die allgemeinen Vorstellungen und Verhaltensweisen von Ehre, Männlichkeit und Sex in einem Veränderungsprozeß befanden“. Wenn Wippermann damit allgemein das Aufkommen von Emanzipationsbewegungen meint, ist das sicher richtig. Aber gerade diese Briefe und ihr erpresserischer Charakter sind gegen diesen Trend gerichtet. Durch den Kotze-Skandal, so Wippermann weiter, „wurden die allgemeinen und in der sonstigen halbfeudalen Gesellschaft des Kaiserreichs anzutreffenden Klassenschranken und gender-Barrieren tangiert und zum Teil sogar durchbrochen“. Und zwar lediglich deshalb, weil in den Briefen einigen Männern „Weibischkeit“ und damit Homosexualität und einigen Frauen ein eher männlicher, sexueller Jagdtrieb unterstellt wurde. Ist aus diesen Briefen also ein Aufbegehren gegen die Auffassung, daß ein Mann als Mann und eine Frau als Frau zu erkennen sein sollen, herauszulesen? Wohl kaum. Mit der absurden Vorstellung, daß wir nicht als Mann oder Frau geboren, sondern jeweils dazu gemacht werden, hat das alles nichts zu tun, auch wenn Wippermann uns das weismachen will.

Wolfgang Wippermann

Eine ähnlich fixe Idee wie die Genderfrage ist bei Wippermann der angebliche „antisemitische Subtext der Kotze-Affäre“. Der Hintergrund ist, daß der Anwalt Kotzes, Fritz Friedmann, Jude war.
Friedmann war ein erfolgreicher und offenbar deshalb auch kritisch beäugter Rechtsanwalt, der einerseits für spektakuläre Freisprüche verantwortlich war, dem aber auch unterstellt wurde, Wucherhonorare zu nehmen. Zunächst stellt Wippermann es so dar, als ob der Erfolg im Fall Kotze dazu führte, daß die Hofgesellschaft ihn kaltgestellt und seine berufliche Existenz vernichtet habe. Wenig später muß er dann schreiben, daß Friedmann sich durch seine Spielsucht selbst in den Ruin getrieben hat. Er floh ins Ausland, wurde in Frankreich festgenommen und in Berlin vor Gericht gestellt, das ihn freisprach! Aber Wippermann bleibt entgegen der eigenen Darstellung dabei: „Doch wichtiger und für ihn folgenreicher war seine scharfe Verurteilung des am Hof Wilhelms II. und in der Gesellschaft um sich greifenden Antisemitismus.“

Auch in einem anderen, diesmal wirklich zentralen Punkt, kann Wippermann nicht aus seiner vulgäremanzipatorischen Befangenheit ausbrechen. Da Kotze seine Ehre durch das Duell wiederherstellen wollte und das auch tat, schüttelt Wippermann seinen Kopf über so viel Unvernunft und fühlt sich berufen, nach dem Charakter der Ehre zu fragen, um die es Kotze ging. Das Urteil steht bei Wippermann schon vorher fest: Diese Ehre ist eine Mischung aus Standesdünkel, Männlichkeitswahn und, natürlich, Antisemitismus. Wippermann stellt sich nicht einmal insgeheim die Frage, warum sich dieser Ehrbegriff so lange halten konnte, wenn er doch rein destruktiver Natur sein soll. Und ob es sich mit solch einem Ehrbegriff nicht besser leben ließ als ohne. Das Duellwesen, auf das es Wippermann abgesehen hat, wurde wegen der Kotze-Affäre im Reichstag diskutiert, und lediglich eine Minderheit begrüßte den rechtsfreien Raum, in dem sich diese Treffen abspielen konnten. Es eignet sich also nicht, um das Kaiserreich zu diskreditieren.

Vollends merkwürdig ist das Schlußkapitel, in dem Wippermann sich über heutige Männlichkeit äußert, ohne auch nur einen kritischen Blick auf die Gegenwart zu werfen. Das einzige, was ihm dazu einfällt, ist, daß es gut sei, daß es keine Männlichkeit mehr gebe und auch keinen unhinterfragten Ehrbegriff. Er macht sich nur Sorgen (immerhin), daß wir uns nicht von „gewissen männlichen und als ehrenhaft geltenden Verhaltensweisen von meist männlichen und jugendlichen Angehörigen der Unter- und auch der Mittelschichten terrorisieren lassen“. Will Wippermann damit suggerieren, daß es damals einen Terror der Oberschicht gegeben hat? Die Vermutung liegt zumindest nahe, und sie würde nur den gesamten Eindruck des Buches bestätigen: Es ist ein Pamphlet der Gender-Ideologie und hat mit seriöser Geschichtswissenschaft nichts zu tun. Den Geist, den es atmet, hat Hermann Lübbe einmal „demokratischen Dummstolz“ genannt.