Nicolaus Sombart

Wilhelm II.

Sündenbock und Herr der Mitte

Volk & Welt-Verlag 1996 250 Seiten

Wilhelm II. - Sündenbock und Herr der Mitte

Dieses Buch ist eine Besonderheit. Der Berliner Schriftsteller, Publizist und Kultursoziologe Nicolaus Sombart gilt unter den vielen – vermeintlichen oder tatsächlichen Experten in Sachen „Wilhelm II.“ – mit gutem Recht als der derjenige, der das tradierte Negativbild des letzten Kaisers am konsequentesten in Frage gestellt hat.

Sombart wählt einen interdisziplinären Ansatz, um das Phänomen „Wilhelm von Hohenzollern“ in seiner Mannigfaltigkeit und Zeitbezogenheit zu ergründen, d.h. er ergänzt die historische Betrachtungsweise um eine psychologische, soziologische und staatsrechtliche Perspektive.

Sombart gelingen vielfach überzeugende Neuinterpretationen.
Er entlarvt das angebliche, so oft angeprangerte „Persönliche Regiment“ des Kaisers als das, was es war – ein „Schlagwort, das den komplizierten innenpolitischen Verhältnissen und der Weise in der der Kaiser in ihrem Kraftfeld agierte, in keiner Weise gerecht wurde“ (S. 15).

Er zeigt die Widersprüchlichkeit und Bedenklichkeit der zeitgenössischen Kaiserkritik und Kaiserbeschimpfung auf: den einen zu vorsichtig, zu friedliebend, zu verfassungstreu - den anderen wiederum zu prahlerisch, zu taktlos, zu selbstherrlich.

Besonders bemerkenswert ist die meisterhafte Analyse des wilhelminischen Hofstaates, der sakralen Dimension der monarchischen Rolle Wilhelms II. („imperiale Topographie“), der Intrigen des Reichskanzlers Bülow und der fatalen Rolle Eulenburgs und dessen Entourage.

Sombart bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt, daß „alle sogenannten 'Fehlleistungen' des Kaisers auch ganz anders, oft zu seinen Gunsten, interpretiert werden könnten“. (S. 144)

Manchmal schießt der Autor dabei freilich auch über das Ziel hinaus.

Die Rehabilitierung Wilhelms II. betreibt Sombart mit einer völlig überzogenen Diabolisierung Bismarcks, der Wilhelm in Form des Reiches von 1871 ein unregierbares und dem Untergang geweihtes Erbe hinterlassen habe. Anstelle des „Sündenbocks“ Wilhelm II. tritt die „sinistre Gestalt“ des von Volk und Geschichtsschreibung mythisch überhöhten Reichsgründers Bismarck, der von Grund auf böse und machtgierig gewesen sei. Damit lehnt sich der Autor entschieden zu weit aus dem Fenster. Die Wahrheit liegt – wie so oft – wohl eher in der Mitte dieser beiden Extreme.

Fazit

Wer über die überzogene Bismarck-Kritik hinweglesen kann, findet in Sombarts polarisierender Charakterstudie ein notwendiges, weil überfälliges Werk, das in jedem Fall neue Einsichten über das „Fabelwesen seiner Zeit“ (Daniel Chamier) Wilhelm II. zutage fördert und hoffentlich den ein oder anderen „Experten“ zur Revision gängiger Vorurteile anregt.


Hinweis zur Verfügbarkeit: Das Buch ist zur Zeit vergriffen, über eines der zahlreichen Internet-Antiquariate jedoch leicht zu finden.