Martin Kohlrausch (Hrsg.)

Samt und Stahl

Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen

Landt-Verlag 2006 465 Seiten 29,90 €

Samt und Stahl

Das heutige Urteil über Kaiser Wilhelm II. ist im allgemeinen rein negativ. Fernsehsendungen und Bücher der letzten Jahrzehnte lassen in der Regel kein gutes Haar am Kaiser. Das Hauptproblem dabei: Die Kritik mißt oft nur mit heutigen Maßstäben, ohne die damaligen Zeitumstände zu berücksichtigen. So kommt sie meist zu sehr einseitigen und einfachen Schlüssen.

Um ein wirklich ausgewogenes Bild über Wilhelm II. zu gewinnen, sollte man sich daher auch die Fragen stellen: Wie urteilten eigentlich seine Zeitgenossen und die, die ihn persönlich kannten? Wie lauten die Urteile aus damaliger Sicht? Wurde der Kaiser seinerzeit bereits ähnlich kritisiert wie heute? Gab es auch positive Stimmen?

Der Band „Samt und Stahl“ beantwortet genau diese Fragen und ermöglicht uns jetzt, den Kaiser aus der Perspektive der Zeitzeugen zu betrachten.
Er enthält 20 Essays über Wilhelm II., verfaßt von berühmten Persönlichkeiten wie Bismarck, Rathenau und Churchill, aus den Jahren 1888 bis 1940. Zu Wort kommen Journalisten, Schriftsteller, Wissenschaftler und herausragende Politiker.

Ausgewählt und herausgegeben wurden die Beiträge von Martin Kohlrausch, einem ausgewiesenen Experten für die Kaiserzeit.
Jeder Essay wird von Kohlrausch kurz eingeleitet, was sich als sehr hilfreich erweist: Der Leser erfährt Hintergründe über die jeweiligen Zeitumstände, über die politische Einordnung und die Ideenwelt eines jeden Verfassers.

Die Essays selbst sind spannend zu lesen und höchst aufschlußreich, die Welt um Wilhelm II. wird lebendig und greifbar. Oft finden sich bestechende Urteile, z.B. wenn Rathenau über den Kaiser feststellt: „Die Überzeugtheit seiner Sendung, den Glauben an den Fortschritt […] den unbekümmerten guten Willen. […] Nichts ist ungerechter, als diesem Monarchen Grausamkeit des Herzens vorzuwerfen.“ Der Journalist Theodor Wolff schreibt anläßlich der Abdankung des Kaisers 1918: „Er hat dreißig Jahre lang regiert, und er ist Opfer von Eigenschaften geworden, die ein Teil seiner Natur waren und von fatalen Persönlichkeiten zugunsten falscher Ziele ausgebeutet worden sind.“ Viele interessante Fragen werden aufgeworfen und beantwortet, z.B. „Wie wird der Kaiser informiert? Wie unterrichtet er sich über die Vorgänge der äußeren und inneren Politik?“

„Samt und Stahl“

Kritik wie Zustimmung zum Kaiser werden in allen Facetten geäußert und durch zahlreiche Augenzeugenberichte veranschaulicht. Bestimmte Charakterzüge und Handlungen des Kaisers werden dadurch erstmals verstehbar. Einige Essays nehmen gegensätzliche Positionen zueinander ein und beleuchten somit den Kaiser von zwei Seiten.
In der Summe ergibt sich ein vielschichtiges, ambivalentes Bild, das ein differenziertes und fundiertes Gesamturteil über Wilhelm II. zuläßt.

Viel erfährt der Leser außerdem über die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Strömungen im damaligen Deutschland – nicht zuletzt durch die erhellenden Einleitungen des Herausgebers.

Abgerundet wird das Buch durch einen 15seitigen Bildteil, der auch erstmals veröffentlichte Fotografien aus dem Archiv des Hauses Hohenzollern enthält.

Fazit

Dieses Buch war längst überfällig. Zum ersten Mal steht uns gebündelt eine Sammlung hochwertiger zeitgenössischer Urteile über Wilhelm II. zur Verfügung – eindrucksvoll zusammengestellt und kommentiert.

Der Band bringt große Erkenntnisgewinne. So wird beispielsweise klar: Sämtliche heutige Kritik wurde auch schon während der Regentschaft des Kaisers geäußert (z.B. sein anachronistisches Selbstverständnis, das „persönliche Regiment“, Unstetigkeit, Taktlosigkeit usw.). Die aktuelle Kritik an Wilhelm II. ist also nichts Neues. Sie ist zudem nichts, was erst durch neuere Forschungen entscheidend gewonnen werden konnte!

Das Problem heutzutage freilich ist: Man beschränkt sich allein auf die Kritik – die damals bereits genauso vorgebracht wurde. Die vielen gegensätzlichen und relativierenden Argumente sowie die positiven Aspekte Wilhelms II. werden heute schlichtweg ausgeblendet.

Dieses Buch jedoch bringt auch die positiven Seiten des Kaisers zum Vorschein. Seine Leistung ist es somit, die Ausgewogenheit in der Kaiserbeurteilung wiederherzustellen.

Dieses in jeder Hinsicht gelungene Werk lädt regelrecht zum Schmökern ein und garantiert fesselndes Lesevergnügen. So eignet es sich auch hervorragend als Urlaubslektüre für den geschichtlich Interessierten.

Wer Wilhelm II. kompetent und fair beurteilen will, kommt an diesem Band nicht vorbei.
Ein Meilenstein der Wilhelminismus-Literatur!