1913
Umfrage unter deutschen Intellektuellen über Wilhelm II.
Dokument I: Prof. Karl Hermann Breul

Prof. Karl Hermann Breul, (1860-1932), Professor für Deutsch an der Universität Cambridge, über Wilhelm II.:

„Sie fragen mich, wie Kaiser Wilhelm mir, dem nun schon fast dreißig Jahre in England angesessenem Manne deutscher Herkunft, erscheint?

Nun, vor allen Dingen als ein ganzer Mann, „eine Natur“ im hohen Sinne Goethes.

Er steht mir, wie gewiß Millionen von Zeitgenossen auf beiden Seiten der Nordsee, vor Augen als ein geistig und körperlich außergewöhnlich regsamer Mensch, dessen Eigenart vorwiegend produktiv, schöpferisch ist. Ein Mann von hervorragender Willenskraft beim Überwinden auch starker persönlicher Hindernisse, die ihn u.a. zu einem kühnen und gewandten Reiter und Segler gemacht hat. Stets bereit zu lernen, sich einzuarbeiten, mit eigenen Augen zu sehen, versteht er es, gut und klug zu fragen, die sich ihm von allen Seiten bietenden Gelegenheiten zu fachkundigster Belehrung aufs beste zu benutzen und das geistig Erworbene anderen klar auseinanderzusetzen und schöpferisch zu verwerten.

Ein Mann von äußerst strengem Pflichtbewußtsein, der sich keine Ruhe gönnt, wo es das Wohl des Vaterlandes zu fördern, seine Interessen nachdrücklich zu vertreten gilt. Weitblickend und seinem Volke auf verschiedenen Gebieten mutig neue Bahnen weisend hat er mehrfach entscheidend in die Entwicklung des Vaterlandes eingegriffen: in der Schaffung der Flotte, in der Förderung der Luftschiffahrt, in der Durchsetzung freiere Beweglichkeit im Erziehungswesen, in der Tüchtigmachung der deutschen Jugend, in der Bekämpfung des Alkoholismus und anderer Schäden.

Hier und auf vielen anderen Gebieten der Volkswohlfahrt steht der erste Mann des Volkes auch wirklich an erster Stelle und darf seiner unablässigen, zielbewußten Tätigkeit und Fürsorge große Erfolge zugute schreiben. Schon als Schüler unermüdlich fleißig und lernbereit, zeigte er schon früh jenen „Ernst, den keine Mühe bleichet“, der mir als ein Hauptkennzug seines Wesens erscheint.

Stark empfindend und lebhaft zu allen Dingen Stellung nehmend, ist er gelegentlich „schnell fertig mit dem Wort“, aber in letzter Zeit mehr und mehr bereit, dem natürlichen Bedürfnis sich zu äußeren, im Interesse des Ganzen Schranken zu ziehen.

Die letzten Beweggründe mancher Reden, mancher Taten, wird erst die Zukunft enthüllen, und sicher muß es einer tatkräftigen Natur wie der seinen oft fallen, eine häufig nur wenig takt- und einsichtsvolle Kritik seines Tuns schweigend hinzunehmen. Auch er wird gelegentlich in Wort und Tat das rechte nicht getroffen haben – „es irrt der Mensch so lange er lebt“ – doch wer will heute schon sagen, wo wirklich Irrtum vorlag? Nie aber wird sich wohl eine Gelegenheit nachweisen lassen, wo der Kaiser nicht im besten Glauben, nach bester augenblicklicher Überzeugung und Information und ohne Rücksicht auf eignes Behagen energisch gehandelt hat. Das starke Gefühl für die hohe Aufgabe seiner Krone ist in allem seinem Tun deutlich gegenwärtig. Aus eigener Kraft hat er seine großen Gaben nach jeder Richtung entwickelt und außerordentlich viel aus sich gemacht. Der unermesslich schwierigen Aufgabe, ein würdiger Nachfolger Kaiser Wilhelms I., ist er, das kann man schon seit langem Jahren rühmen und wird man stets tiefer erkennen, voll gerecht geworden.

Mit besonderem Stolz blicken auch die Deutschen im Auslande zu diesem hochsinnigen, charaktervollen Vertreter des Deutschtums empor, der dem deutschen Namen auch im Auslande solch gesteigerte Geltung verliehen, und sie danken es ihm aufrichtig, daß er seine gewaltige Kraft so entschlossen in den Dienst des Friedens gestellt hat. Auch hier weiter schauend als viele seines Volkes hat er es verschmäht, den Lockungen starker Volksströmungen zu folgen und des Weltkrieges Fackel zu entzünden. Ein Friedensfürst wollte und will er’s ein, kein persönlichen Lorbeer suchender, dabei aber völkermordender Heerführer.

Wohl ist er allzeit ein Stärker und Mehrer des Heeres und der Flotte, der äußeren Machtmittel des Reiches , gewesen - aber er bedient sich ihrer zum Schutz des Vaterlandes, nicht zur Herausforderung der Nachbarn. Er ist der schönen wahren Worte Schillers eingedenk:

„Bill’ge Furcht erwecket sich ein Volk, das mit dem Schwerte in der Faust sich mäßigt.“

Wohl sieht er mit unablässiger Sorgfalt, dass Deutschlands Schwert stets geschliffen bleibt und eben hierdurch hat er mehrfach den Weltfrieden bewahrt, aber mit nicht minderer Fürsorge gewährt er dem Kaufmann, dem Landwirt, dem Erfinder, dem Forscher seinen kaiserlichen Schutz. Wohl will er ein Eroberer sein für sein Volk, aber ein Eroberer des Geistes und der Gesittung, der Volkswohlfahrt, der Verbesserung der Lebenshaltung und Lebensführung, ein Streiter gegen Not, Elend, Seuche und Unwissenheit, ein Schützer und Förderer friedlichen Wettbewerbs auf allen Gebieten. Wäre sein Beruf nicht der eines Herrschers, so würde er fraglos auf verschiedenen Gebieten andrer menschlicher Bestätigung sich längst eine hervorragende Stellung errungen haben. Ist er kaiserlich prächtig und majestätisch, wo es gilt, des Reiches Würde zu vertreten, so versteht er sich andrerseits im persönlichen Verkehr bezaubernd liebenswürdig und einfach sich zu geben und ist in fröhlicher Gesellschaft ein fröhlicher Gesellschafter.

Ist er doch auch der erste unter den Herrschern gewesen, der den Wert häufiger persönlicher Aussprache unter den Häuptern großer Reiche erkannt hat.

Seine Besuche an fremden Fürstenhöfen haben bahnbrechend gewirkt, später viel Nachfolge gefunden und sind heute ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Weltpolitik.

In seinem Familienleben gilt er als das Bild eines musterhaften Gatten und Vaters, welcher auf treue Wahrung des guten alten Familiensinnes das höchste Gewicht legt und auch in den häuslichen Tugenden seinem Volke voranleuchtet.

In seiner Geistesrichtung erscheint Kaiser Wilhelm meist als ein durchaus moderner Mensch, ja als ein den meisten Volksgenossen vorauseilender, neue Bedürfnisse klug voraussehender, kräftig neue Bahnen weisender Geist. Daneben aber befinden sich in diesem vorzugsweise neuzeitlichen Geistesgewebe als bedeutsamer Einschlag einige altdeutsche Fäden, Voraussetzungen und Anschauungen, die vielen Vorstellungen aus alten patriarchalisch-feudalen Zeiten anmuten und deren Quelle und tiefster Charakter, besonders im germanischen Auslande, England und Amerika, manchmal nicht richtig erkannt und genügend eingeschätzt wird.

Persönlich hat Kaiser Wilhelm viel, was in England immer gefallen muß und immer gefallen hat. Seine vornehme Natur, seine frische Natürlichkeit, der Zauber seines Wesens im persönlichen Verkehr, sein lebhaftes Interesse für körperliche Übungen, sein Freude am Sport, besonders am Segelsport, zur Ertüchtigung des ganzen Menschen, haben ihm von jeher die Zuneigung der Engländer gewonnen. Im Laufe der Jahre hat er sich allmählich in England viele aufrichtige Freunde erworben. Alle Briten schätzen an ihm sein warmes religiöses Gefühl, seinen hohen sittlichen Ernst, seine bewußte Selbstzucht, seien wahre Freude an der Natur und sein beglücktes Reisen und schönes Familienleben.

Politisch ist Kaiser Wilhelms Wort in England von hoher Bedeutung, wie sich in den letzten Jahren mehrfach gezeigt hat. Besonders eindrucksvoll und von allerbester Wirkung auf die verantwortlichen Kreise Englands war des Kaisers tiefernste Ansprache an den Lord Mayor von London bei Gelegenheit seines Besuchs der Guildhall im Jahre 1907.

Als in den letzten Monaten des Jahres 1911, wo in England wie in Deutschland die schwersten Befürchtungen über die Absichten des Vetternvolkes jenseits der Nordsee in den weitesten Volkskreisen verbreitet waren, eine Anzahl der hervorragenden Londoner am 2. November in der Guildhall unter dem Vorsitz des Lord Mayor Sir Thomas Vezey Strong tagte, um dem deutschen Volke öffentlich die zweifellose Zusicherung zu geben, daß England in Frieden und Freundschaft mit ihm zu leben wünsche und nicht an böse Absichten Deutschlands glauben wolle, berief sich der Lord Mayor ganz ausdrücklich auf jene Worte Kaiser Wilhelms:

Ich glaube meinerseits stets an die huldvolle und feierliche Versicherung seiner kaiserlichen Majestät, und fühle mich für Sie jederzeit dankbar, welche der deutsche Kaiser in meiner Gegenwart im Jahre 1907 in der Guildhall gehaltenene Rede, als er sagte:

Mein Ziel ist vor allen Dingen die Aufrechterhaltung des Friedens. Ich habe dieses Ziel unwandelbar verfolgt. Die Hauptstütze und Grundlage des zukünftigen Weltfriedens ist die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zwischen unsren Ländern. Ich werde sie auch in Zukunft stärken, soweit es in meinen Kräften steht. Die Wünsche des deutschen Volkes sind dieselben wie die meinen.“

Der Lord Mayor fuhr fort:
„Ich ziehe es weit vor mich hinsichtlich der deutschen Politik und ihrer Bestrebungen auf diese feierliche Versicherung der größten wie der höchsten Autorität in Deutschland zu verlassen, und wenn sie in Widerspruch mit den Behauptungen minder glaubwürdiger Männer gerät, dann fordere ich Sie als britische Männer und Frauen auf, dem einen zu glauben und den anderen nicht!“

Diese Worte machten, wie ich selbst gesehen haben, auf alle Anwesenden tiefen Eindruck.

Seit jenem Abende haben sich erstaunlicherweise die Beziehungen der beiden Völker untereinander wesentlich gebessert, größtenteils ohne Frage dank der in England mehr und mehr anerkannten maßhaltenden und versöhnlichen Politik des Kaisers. 

So steht heute nach seiner 25jährigen gesegneten Regierung, Kaiser Wilhelms Bild vor meinen und vor den Augen von Millionen der im grünen Inselreich der Angeln und Sachsen wohnenden Zeitgenossen deutscher und englischer Abstammung. […] “

Die sozial-religiöse Monatsschrift für deutsche Kultur, die „TAT“, führte im Sommer 1913 (Heft 5/6 1913) anläßlich des 25jährigen Thronjubiläums Wilhelms II. eine Umfrage unter deutschen Intellektuellen durch, die als repräsentativ für das facettenreiche damalige geistige Leben Deutschlands gelten kann.

Die Redaktion bat die Teilnehmer, „sich vorurteilsfrei darüber zu äußern, was sie am Kaiser etwa vermissen und was sie Positives an ihm erkennen, in bezug auf seine innere und äußere Politik, in bezug auf seine Stellung zu einem vertieften nationalen Empfinden […] und insbesondere auch auf die Aufgaben eines modernen Fürsten überhaupt.“

Wir geben hier die Antworten nach und nach wieder, beginnend mit den Ausführungen von Prof. Karl Hermann Breul, Universität Cambridge.

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