4. Juni 1941
Frankfurter Zeitung: Nachruf auf Wilhelm II.

Doorn, 4. Juni. (DRB) Der ehemalige Kaiser, Wilhelm II., ist heute Vormittag, um 11 Uhr 30, im 83. Lebensjahr gestorben.

Solange Wilhelm II. regierte, waren um ihn her funkelnder Glanz und die laute Pracht, die seiner Persönlichkeit nicht weniger als seiner fürstlichen Stellung waren; als nun sein Leben in der Stille eines holländischen Landhauses verlosch, geschah es nach über zwei Jahrzehnten der Einsamkeit und des Vergessens. In dieser Zeit ist der letzte Kaiser den Blicken des Volkes ferner und ferner gerückt; immer größer wird die Schar derjenigen, die ihn kaum anders als aus Büchern und Erzählungen kennen. Doch der Abstand, den Zeit und Schicksal gelegt haben, hat auch manches Verwirrende und Zufällige von seinem Bild entfernt, und gewiß vermag man ihn bei seinem Tode klarer, gerechter, leidenschaftsloser zu sehen als zu der Zeit, da die Kämpfe an der Schwelle zweier Zeitalter noch seine Gestalt umtobten.

Begnadet mit vielen glänzenden Gaben des Geistes, bewunderungswürdigem Gedächtnis und nicht ohne Instinkt für das Wesentliche in politischen Machtentscheidungen, dazu beseelt von dem tiefen und ehrlichen Wunsch, sein Volk glücklich zu machen – so ist er, der Enkel Wilhelms I., nach drei Jahrzehnten der Höhe schließlich tief gestürzt.

Am Anfang steht die harte und freudlose Jugend in seinem Elternhause, in dem er nur noch mit Bitterkeit, ja mit Mißtrauen zu leben vermochte, am Ende der Zusammenbruch der Monarchie. Zwischen solchem Dunkel eingebettet liegt ein Zeit des Glanzes, der in den letzten Jahren schon umdüstert war von den schweren Schatten des Großen Krieges, von Sorgen und Zweifeln an sich selbst.

Aber das tiefe Gefühl von der Schicksalhaftigkeit dieses Lebens hat seine Begründung weniger in dem äußeren Ablauf als in den letzten Wurzeln seines Wesens gefunden.

Daß alle Anlagen des letzten Hohenzollernherrschers sich nicht zu der gleichmäßigen Harmonie verschmelzen mochten, die seinen weniger glänzenden Großvater zum ersten Regenten seiner Zeit gemacht hatten, daß eine so vieldeutige und vielschichtige, schwer bestimmbare und selten ganz enträtselbare Natur auf den Thron gelangte, daß hier seine echte, aber unruhige Sehnsucht immer wieder zusammenstoßen mußte mit der Realität des Daseins – das eben ist sein und unser Verdienst geworden.

Wilhelm II. hat in hunderten von Reden und mit frei geformten Wendungen, an deren bildhafter Kraft kein Zweifel ist, seine Zuhörer und die Nation ebensooft begeistert und befeuert wie enttäuscht und erbittert, er hat im persönlichen Verkehr Literaten und Industrielle, Deutsche und Franzosen, Monarchisten und Republikaner ebensooft bezaubert und gewonnen wie verwundert und zurückgestoßen, er hat in mancherlei politischen Entscheidungen mehr Weisheit bewiesen als seine Ratgeber – er hat sich geweigert, nach Tanger zu gehen, und hat dafür als Oberster Befehlshaber der Millionen deutscher Soldaten im September 1914 den leidenschaftlichen Wunsch nach jener Fahrt zur Front der Marneschlacht geäußert, die vielleicht den Krieg hätte wenden können – aber ihm hat dann doch die letzte Entschlußfestigkeit gefehlt, welche allein die Einsicht auch hätte durchsetzen können. Er hat in solchen Fällen bewiesen, wie unsicher im Letzten jenes herrscherliche Selbstgefühl, jener mystische Glaube an die besondere Auszeichnung des Fürsten durch die Gnade Gottes gewesen ist.

Nicht ohne innere Bewegung vermögen die Nachlebenden zu sehen, wie lange der Kaiser sich aus seiner Kindheit manch jugendliche Züge, die rasche Entflammbarkeit und Hingegebenheit an schwer erreichbare Ziele, die Verkennung von Menschen und Umständen, bewahrt hat. Er hat den Frieden geliebt wie wenige, es war immer seine Sehnsucht, als Friedenskaiser zu regieren, aber er hat nicht bedacht, daß gerade jene Weltpolitik, die zu führen er so stolz war, das deutsche Volk in Konflikt mit anderen Mächten führen müsse.
Nicht sein Wille, sondern stärkere Kräfte als er, starke und fast unwiderstehliche Strömungen, von denen die ganze Welt erfüllt war, haben schließlich während seiner Regierung den Großen Krieg entfesselt.

Er hat das Schicksal seiner Zeit ebenso bestimmt, wie er von ihr getragen wurde; er hat Entscheidungen gefällt, die das Gesicht der Welt mitverändert haben, aber er war zugleich im Handeln und Wesen auch das Symbol des Zeitalters, das mit Recht das wilhelminsche heißt: Heute ist es leicht zu sehen, wieviel Flitter in all der glanzvollen Herrlichkeit war. Aber wer heute richten will, darf darüber den Stuck nicht vergessen, mit dem der Bürger an seinen Häusern antikische Ornamente vorzutäuschen suchte, den Goldschnitt seiner Klassikerbände, die er nicht las, und die großen sozialen Worte ohne soziale Taten.

Die Zwiespältigkeit seines Willens hat Wilhelm II. nie eindringlicher, nie folgenreicher erwiesen als in den unseligen Novembertagen des Jahres 1918, in dem ein mächtiges Schicksal eine mächtige Energie verlangte und nicht fand. Als der Kaiser über die Grenze ging, erhärtete er noch einmal die Redlichkeit seines Willens, die deutsche Nation glücklich zu machen: Ihr brachte er das schwer Opfer seiner Persönlichkeit, denn nur um ihr den Bürgerkrieg zu ersparen, hat er nach schwerem Gewissenskampf und nach dem Rat Hindenburgs seine Absicht aufgegeben, seinen ererbten Thron auch zu verteidigen. Aber als er, der die Welt erzogen hatte, in ihm das Sinnbild des monarchischen Gedankens überhaupt zu sehen, nun als gebrochener und müder Mann im Kraftwagen über die Grenze fuhr, hat er dennoch gerade durch diese Handlung bewiesen, wie schwach und krank der Glaube an die immanente Macht des Königtums bereits in ihm geworden war. Als er die Grenze überschritt, nahm er den Mythos des Kaiserreichs mit sich hinüber. An diesem Tage zerbrach etwas in Deutschland, das nicht wieder neu zu bauen ist.

Seit dem November 1918 ist die Einsamkeit um den Kaiser gewesen. In dieser Zeit ist Wilhelm II. ein stiller Mann geworden. Er hat es durch Ritterlichkeit der Gesinnung erleichtert, daß heute die Nation im Geiste der Versöhnlichkeit von ihm scheidet und daß sie noch einmal stärker als je die Schwere dieses Schicksals empfindet, das dem Kaiser viele glänzend Gaben des Geistes verlieh, nur um ihm die letzte, die stetige Sicherheit zu versagen, und das ihn auf die Höhe des Daseins stellte, um ihn so gewisser in die Einsamkeit zu stürzen.

Am Todestag von Wilhelm II. veröffentlichte die Frankfurter Zeitung, die Vorläuferin der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), einen bewegenden Nachruf auf Wilhelm II. Er ist insofern bemerkenswert, da es dem namentlich unbekannten Autor gelang, eine gewisse Sympathie für den verstorbenen Kaiser nicht verhehlen zu müssen – obwohl die gleichgeschaltete Presse der NS-Zeit eigentlich strikt monarchiekritisch zu sein hatte.

Die Frankfurter Zeitung hatte sich als einzige überregionale Zeitung eine gewisse geistige Unabhängigkeit bewahren können, wurde jedoch 1943 auf Veranlassung Hitlers verboten.