Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg

Der letzte Kaiser im Wandel der Zeitgeschichte

von Prof. Dr. Paul Gottfried  (Elizabethtown College, Pennsylvania)

Einer bemoosten Legende nach haben die Achtundsechziger einem weitgehenden Läuterungsverfahren Anstoß gegeben. Über die von ihr umgestaltete politische Kultur hinaus hat die Einflußnahme dieser Generation auf das deutsche und mitteleuropäische Gemeinleben eindringlich gewirkt – stets zum Zweck, der Stammbevölkerung ihren Nationalsinn zu entziehen.

Kriegsschuld im Ersten und Zweiten Weltkrieg

Zu den Aufgaben dieser Gewissenspeiniger zählt die Arbeit, die Verantwortlichkeit für den Ersten Weltkrieg umzudeuten. Der Legende nach hat die ältere Generation von deutschen Historikern übergroße Unterschiede zwischen den Verantwortungsgraden der deutschen Kriegführenden jeweils 1914 und 1939 getroffen. Während sie der deutschen Diktatur im Falle des Zweiten Weltkriegs eine beträchtliche Schuldlast unterstellten, versuchten die vermutlichen Beschöniger, der deutschen Regierung und den Staatsbürgern beim Ersten Weltkrieg einen niedrigen Grad zuzuschreiben.

Natürlich war es für die deutschen Ehrenverteidiger schwierig, die damalige deutsche Regierung und den sprunghaften und wustigen Deutschkaiser von jeder Kriegsschuld freizusprechen. Trotzdem behandelten die betreffenden Historiker die deutschen Staatsträger einfach als Fahrlässige, die den Kriegsablauf mit anderen Mitschuldigen ins Rollen gebracht hatten. Dieser Deutung folgend müsse man sich hüten, der deutschen Nation den Schwarzen Peter zuzuschieben. Auch wenn die rasante Vermehrung der kaiserlichen Flotte, das Einmischen von Wilhelm II. in die Verhandlungen der westlichen Kolonialmächte und die im Zweiten Reich zu erkennende „illiberale“ Staatsform in Betracht gezogen werden, hätten die Deutschen nicht mehr als die anderen angerichtet, um den Krieg herauszufordern. In diesen überspitzten Formulierungen, so die späteren Kritiker, haben nationalbewußte, deutsche Geschichtler die deutsche Rolle am Kriegsausbruch und die Mängel des Kaiserreiches verniedlicht.

Historikerstreit in den 60er-Jahren

Gegen diese Verharmloser ist der ehemals nationalsozialistische und nachher auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung hinarbeitende Historiker Fritz Fischer in „Griff nach der Weltmacht“ (1961) und in dessen Folgewerken zu Felde gezogen. Die Tatsache, daß die damalige Springer-Presse und Union-Rundschreiben Fischers Werk als eine Ehrenbefleckung für ihre Nation brandmarkten und den Unwillen „der Deutschen, sich zweimal als kriegsschuldig zu bekennen“ unterstrichen, gab dem heraufziehenden Gerangel weitere Nahrung. Bei diesem Historikerstreit wurden, so erscheint es, gewisse erzählenswerte Tatsachen weggefegt. Die Fischer-Schule setzte sich aus hartgestrickten Sozialisten zusammen, während ihre bevorzugten Angriffsscheiben, Gerhard Ritter, Heinz Gollwitzer, und Hans-Dietrich Erdmann, der relativ konservativen CDU zuzuordnen waren. Und natürlich kamen die „nationalkonservativen Historiker“ durch die CDU-Schirmherrschaft zu stattlichen Lehrstühlen. Immerhin haben die verhöhnten Historiker keineswegs erkennen lassen, daß sie überhitzte Nationalisten gewesen sind. Bezüglich ihres Herangehens an den Ersten Weltkriegs haben sie sich nie als Deutschnationale gebärdet. Ihr Fauxpas bestand darin, daß sie die angehäuften Beschuldigungen gegen das Zweite Reich für ihre Gegner zeitgeistwidrig ausgesiebt hatten. Wie dies auch sein mag: Auf den Kaiser und seine Staatsminister hielten sie überhaupt keine Lobreden. Gollwitzer, der in Münster von Radikalen schikaniert wurde und sich früh pensionieren ließ, hat die grelle Rückschrittlichkeit des Kaiserdeutschlands in den Vordergrund seiner Aufsätze über die Weltpolitik gestellt. Doch entgegen seinen Behauptungen hat die deutsche Sache im Ausland nicht bloß miesepetrige Militärs und unsympathische Reaktionären angezogen.

Die geistigen Abhängigkeiten der damaligen Historiker

Was viele Historiker der älteren Generation in der Nachkriegszeit prägte, war die nachhaltige Erinnerung an die zwei deutschen Niederlagen im zwanzigsten Jahrhundert. Ebenso eindringlich war die Einwirkung der den West- und Mitteleuropäern beschiedenen amerikanischen Herrschaft und das Angewiesensein der Deutschen auf die Amerikaner, um sich vor einer drohenden sowjetischen Macht zu schützen. Die Wertevorzüge ihrer amerikanischen Besetzer und späteren Gönner hat die in der Nachkriegszeit zur Berufsreife gelangten Deutschen lebenslang mitgeprägt. Und wesentlich für diese von außen angelernte Gesinnungspolitik war der „liberal internationalism,“ den der Antideutsche Wilson im Ersten Weltkrieg auf sein Panier schrieb, und der den zerschlagenen Deutschen eingehämmert wurde. Die Westbindung bedeutete für den Besiegten und Bekehrten, das Gute und Sittliche auf einen „demokratischen,“ „in Amerika hergestellten“ gemeinsamen Nenner zu bringen. Der heute als rechts eingeordnete Historiker Ernst Nolte eifert in seiner „Geschichte Europas 1848-1948“ ebenfalls gegen das Zweite Reich. Bei seinem Rundumschlag gegen die deutsche Staatsführung vor und während des Krieges läßt sich Nolte nicht einmal von Fischer und Geiss bei seiner Verachtung für das Kaiserreich überbieten. Falls sich die Deutschen im Krieg durchgesetzt hätten, so Nolte, hätten die übrigen Europäer „unter der Herrschaft einer siegestrunkenen Militärmacht, einer eisernen Ferse gestanden.“ Darüber hinaus: „So wenig sein heutige Zustand Bewunderung verdient oder endgültig sein muß, so wenig gibt es einen zwingenden Grund, Deutschlands Niederlage von 1918 zu beklagen.“

Eine weichenstellende Position bezog der an der Harvard Universität lehrende Ordentliche Professor William L. Langer (1896-177). In „European Alliances and Alignments“ (1939) legte Langer bei seiner Behandlung des Ursprunges des Ersten Weltkriegs den Schwerpunkt auf die diplomatischen Bindungen der beiden in den Konflikt eintretenden Seiten. Schwer wäre es, bei seiner Geschichtsschreibung den Mittelmächten eine besondere Kriegsschuld zuzuweisen. Als diplomatischer Historiker versucht Langer die Antriebe und Wirkungsweise der Allianzenstruktur ab dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts freizulegen und zu gewichten.

Fay: Serbien, Russland und Österreich-Ungarn sind schuld

Sein Zeitgenosse Sidney Bradshaw Fay wirbelte außerdem Staub auf mit seiner revisionistischen Studie über die Kriegsverantwortung „The Origins of the World War“ (1928). Fay zieht den antideutschen Konsens der amerikanischen Liberalinternationalisten in Zweifel und rückt die Beteiligung der serbischen Regierung an dem folgenschweren Attentat auf den österreichischen Erzherzog und seine Gattin ins Scheinwerferlicht. Aufgrund seiner Belegstücke schafft es Fay, die Schuld für den Kriegsausbruch weg von den Westmächten, einschließlich der Deutschen, zentnerschwer auf Serbien, Rußland und Österreich-Ungarn zu verlagern. Den Deutschen aber schrieb er denselben Fahrlässigkeitsgrad wie den Franzosen zu.

Zwei weitere die Kriegsfrage angehende, zeitnähere Schriften sind ebenfalls von Bedeutung: „The Politics of War“ (1979) – ein Buch, worin Walter Karp mit Woodrow Wilson und seiner Außenpolitik hart ins Gericht geht. Karp hebt die Zielbewußtheit hervor, womit Wilsons Regierung seine Nation in eine feindselige Haltung den Mittelmächten gegenüber gelenkt hatte. Besondere Aufmerksamkeit wandte Karp dem Doppelmaß zu, womit Wilson und sein Staatssekretär Robert Lansing mit den deutschen Zuständigen umgesprungen waren.

Kennan: Französisch-russischer Pakt mit verheerenden Folgen

Einen weiteren Hieb gegen die deutschfeindliche Interpretierung des Kriegsbeginns versetzte George Frost Kennan (1904-2005) in „The Fateful Alliance: France, Russia, and the Coming of the First World War“ (erschienen 1984). In dieser sprachgekonnten Schrift zerlegt Kennan die schon damals einseitige Darstellung der in dem Krieg kulminierenden Ereigniskette. Nach der hergebrachten Interpretierung sei es Wilhelm II. vorzuwerfen, daß das 1887 Wiederversicherungsabkommen mit Rußland nicht binnen der anberaumten Jahresfrist (1890) erneuert wurde. Wegen der hochschnellenden Widerstreite zwischen Österreich-Ungarn und Rußland entschied Wilhelm II. voreilig, die russische Verbindung zugunsten der österreichischen im Ganzen zu opfern.

Der junge Kaiser war nicht zu tadeln, so Kennan, daß der auf Bismarcks Wacht abgewickelte Wiederversicherungsvertrag mit Rußland fortfiel. Der Verantwortungsträger dafür war der russische Zar Alexander III., der ein näheres Verhältnis mit Frankreich anstrebte. Wegen des Machtstrebens auf dem Balkan – entgegen den Wünschen der Deutschen und Österreicher – entschieden der Zar und seine Berater von den Deutschen mit ihren österreichischen Mitverbündeten wegzurudern. Mittlerweile trat der französische Gesandte und nebenbei Abkömmling der byzantinischen Kaiserfamilie, Maurice Paleologue, an den russischen Herrscher mit bestechendem Köder französischer Kredite heran, um die russische Schwerindustrie und Eisenbahnlinien aufzurichten.

Und kurz nach dem Abschluß der russisch-französischen Allianz kam der Schlieffenplan als Lösung des gewärtigten Zweifrontenkriegs für die Deutschen zutage. Darin schlug sich das Paktieren der Russen und Franzosen zu einem Verhängnis nieder. Zu dieser Auswertung gehören folgende weitere Betrachtungen: Der Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Russland hat nicht mehr ermöglicht, als eine wohlwollende Neutralität zwischen den Unterzeichnenden zu gewährleisten. Wie der Geheime und Vortragende Rat im Auswärtigen Amt Friedrich von Holstein (wie begründet sein Ruf als Hofintrigant auch gewesen sei) mit Recht feststellte: Den Deutschen sei mit der russischen Verständigung kein großer Wurf gelungen. Man hat diese im Geheimen abgeschlossen, ohne die Österreicher davon zu unterrichten, und ohne eine beträchtliche Gegenleistung setzt man sich der erdenklichen Gefahr aus, die Engländer ins Harnisch zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt zerstritten sich die Russen und Engländer über die Ausdehnung ihrer jeweiligen Einflußbereiche in Mittelasien.

Wer hat alles Schuld? Großbritannien auch?

Die Fortsetzung der Beziehung zum Zarenreich hätte zur Folge gehabt, daß die Deutschen verhindert werden könnten, eine nähere Verständigung mit Wilhelms englischem Mutterland zu erreichen, so Holstein und Bismarcks Nachfolger Leo von Caprivi. Und nicht zuletzt hat es reichlich Anlässe nach 1891 gegeben, zwischen Deutschland und Rußland freundliche Verhältnisse zustande zu bringen.

Ebenso aufklärend für den Hintergrund des Ersten Weltkriegs wirken ein paar englischsprachige Studien, die die britische Beteiligung ausleuchten. Mit erdrückendem Beweismaterial zeigen Roy Jenkins und Edward Cokeley, wie hartnäckig Churchill als britischer Stabschef gegen die Deutschen als einen bedrohlichen Nationalfeind gewettert hatte. Eine Machtprobe mit dieser emporsteigenden Landmacht, die England seine industrielle und wirtschaftliche Spitzenstellung in Europa abzunehmen drohte, hat Churchill als vorbestimmt angesehen. In der Kabinettregierung des Lord Edward Grey, wo Churchill steil an Einfluß gewann, wurden mit den Franzosen weitreichende Kriegspläne geschmiedet. Als Notmaßnahme wurde eine beiderseitige Besetzung der belgischen oder holländischen Küste nach Anfang der Kriegshandlung gegen die Deutschen vorgesehen. Kein Wunder, daß Churchill ohne Kriegsansage der britischen Flotte schlagartig befahl, über die Deutschen eine Hungerblockade zu verhängen.

Im Sammelband „The Costs of War“ beweist der libertäre Historiker Ralph Raico, mit welcher Leichtfertigkeit die Geschichtsfigur, die Henry Kissinger „einen Ausbund an Staatsklugheit“ lobpreist, sein Land in Streitigkeiten hineingedrängt hat. Vom Burenkrieg bis hin zu den Weltkriegen hatte Churchill keine Skrupel auf vorgezeichnete Totalfeinde britische Streitkräfte loszulassen. Und war das Gefecht einmal losgetreten, hat er es keineswegs gescheut, seine Feinde inklusive der Zivilisten zu vernichten. Woher rührt es, daß er Hungerblockaden und Terroranschläge gegen Nichtkämpfer als alltägliche Kriegsmittel eingesetzt hat; und nach dem Zweiten Weltkrieg, ohne einen Mucks vorzubringen, Hunderttausende aus Osteuropa zugeströmte Flüchtlinge Stalins Henkern ausgeliefert hat? Raico bezweifelt, daß das deutsche Eindringen in Belgien den englischen Stabschef gänzlich zur Kriegserklärung brachte. Den Anlaß ergriff Churchill vorsätzlich und zwar genüßlich.

Zitat

„Folglich wäre es falsch, die öffentlichen Beteuerungen Wilhelms seiner friedlichen Absichten – die bekannteste in seiner Jubiläumsansprache vor den Reichstagsabgeordneten am 16.6.1913 – einfach als "scheinheilige" Tarnung für eine grundsätzliche kriegerische Diplomatie zu verwerfen. Wilhelm schlug auch bei weniger öffentlichen Anlässen die gleiche Saite an. Zu Admiral Müller sagte er etwa, er wünsche, dass seine Herrschaft eine Zeit der Konsolidierung sei, nicht der Expansion. In einem Gespräch mit dem badischen Gesandten Graf Siegmund Berckheim am 11. März 1914 stellte Wilhelm fest, dass größte Zurückhaltung und Vorsicht die allgemeinen Grundsätze der deutschen Politik sein müssen, und versprach, dass er, der Kaiser, ganz gleich in welcher Situation niemals einen Präventivkrieg führen werde.”

— Prof. Christopher Clark: Wilhelm ii. München 2008, S. 264