Der Kaiser in der Kritik:

Die Daily Telegraph-Affäre  (1908)

Die historischen Hintergründe

Im Herbst 1907 unternahm Kaiser Wilhelm II. eine mehrtägige sehr erfolgreiche Reise nach Großbritannien. Im Anschluß an diesen Staatsbesuch hielt sich Wilhelm II. noch drei Wochen beim englischen Aristokraten Edward James Stuart-Wortley auf dessen Schloß Highcliff Castle auf. Beide diskutierten dort in privatem Rahmen die Möglichkeiten der Verbesserung des deutsch-englischen Verhältnisses.

Im einem der Gespräche äußerte Wilhelm II., daß er nicht verstehen könne, warum die Engländer so mißtrauisch ihm gegenüber seien. Er sei doch während des Burenkrieges (1899-1902) in Deutschland einer der wenigen Freunde Englands gewesen, entgegen der allgemeinen Stimmung im deutschen Volk. Daher wollte er damals auch keine Burenvertreter in Berlin empfangen, und an einem von Frankreich und Rußland geplanten Engagement gegen England wollte er sich nicht beteiligen.
Nach einem sorgevollen Brief seiner englischen Großmutter, Queen Victoria, habe er einen zusammen mit deutschen Generälen entworfenen Feldzugsplan nach England geschickt, der offensichtlich zum englischen Sieg über die Buren beigetragen habe.
Die Flottenpolitik des Reiches richte sich zudem nicht gegen England, sondern sollte lediglich wirtschaftlichen Interessen im Fernen Osten dienen.

Logo des Daily TelegraphDer ebenfalls anwesende britische Journalist Harold Spencer formte aus den Äußerungen des Kaisers ein fiktives Interview.
Knapp ein Jahr später, nach einem erneuten Zusammentreffen des Kaisers mit Stuart-Wortley in Deutschland, erhielt Wilhelm II. den Text dieses „Interviews“ zugesandt mit der Bitte, die Veröffentlichung als Artikel in der englischen Zeitung „Daily Telegraph“ zu genehmigen. Nach Freigabe durch den deutschen Reichskanzler erschien das Interview am 28.10.1908 im „Daily Telegraph“; am 29.10.1908 druckte die halbamtliche „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ ohne Kommentierung die deutsche Fassung.

Die Kritik am Kaiser

Nach Veröffentlichung des Interviews brach vor allem in Deutschland ein Sturm der Entrüstung in Volk, Presse und Reichstag los: Der Kaiser habe sich im Interview zu englandfreundlich gezeigt und sei seinen Landsleuten, die aufgrund der Burenkriege mehrheitlich englandfeindlich eingestellt waren, in den Rücken gefallen.
Andere kritisierten, daß der Kaiser durch undiplomatische Äußerungen England in seinem Stolz verletzt habe (z.B. durch die Feststellung, der englische Sieg über die Buren ginge auf einen deutschen Feldzugsplan zurück) und durch die eigenmächtige kaiserliche Privatinitiative ganz Deutschland vor der Welt blamiert habe.
So notierte z.B. Baronin von Spitzemberg am 30.10.1908 in ihr Tagebuch: „Das Beschämendste, Kläglichste, Indiskreteste und Bedenklichste, was der Kaiser [sich] bisher geleistet [hat]. Der Kaiser ruiniert unsere Stellung und macht uns zum Gespött der Welt.“ (Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Am Hof der Hohenzollern. Aus dem Tagebuch der Baronin Spitzemberg 1895-1914. München 1978)
Das Interview wurde in Deutschland allgemein als erneuter Beleg für das problematische „persönliche Regiment“ des Kaisers betrachtet.

Auch eine Gegendarstellung im „Reichsanzeiger“ am 31.10.1908, die den korrekten Hergang der Ereignisse schilderte, konnte die Attacken gegen Wilhelm II. nicht mildern. Die englandfeindliche Stimmung im Land entlud sich in lautem Unwillen über der Person des Kaisers.

In England selbst wurde das Interview jedoch größtenteils gelassen aufgenommen. Der Skandal war somit fast ausschließlich innenpolitischer Natur.

Reichstagssitzung

Unter dem öffentlichen Druck, besonders des Reichstags, mußte Wilhelm II. auf Verlangen des Reichskanzlers Bülow ein in seinen Augen demütigendes und angesichts des wahren Hergangs der Ereignisse unangebrachtes Dokument unterzeichnen, im dem er versprach, sich künftig mit öffentlichen Äußerungen zurückzuhalten. Das Dokument lautete:

„In der heute dem Reichskanzler gewährten Audienz hörte seine Majestät der Kaiser und König einen mehrstündigen Vortrag des Fürsten von Bülow. Der Reichskanzler schilderte die im Anschluß an die Veröffentlichung des Daily Telegraph im deutschen Volke hervorgetretene Stimmung und ihre Ursachen, er erläuterte ferner die Haltung, die er in der Verhandlung des Reichstages über die Interpellation eingenommen hatte. S.M. der Kaiser nahm die Darlegungen und Erklärungen des Reichskanzlers entgegen und gab seinem Willen dahin kund: Unbeirrt durch die von ihm als ungerecht empfundenen Übertreibungen der öffentlichen Kritik, erblicke Er seine vornehmste Aufgabe darin, die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern. Demgemäß billigte S.M. der Kaiser die Ausführungen des Reichskanzlers im Reichstage und versicherte den Fürsten von Bülow Seines fortgesetzten Vertrauens.“

Der Kaiser zog sich zurück, verfiel in wochenlange Depressionen und enthielt sich für lange Zeit öffentlicher Äußerungen. Sein Ansehen in Deutschland hatte schweren und dauerhaften Schaden genommen.

Die Tatsachen

Das berühmte „Interview“ war gar kein Interview.

Wilhelm II. machte die betreffenden Aussagen in privatem Rahmen ein Jahr vor der Veröffentlichung. Es handelte sich um ein loses Gespräch im Rahmen eines dreiwöchigen privaten Besuchs. Der Kaiser antwortete nicht gezielt auf konkrete, von einem Journalisten gestellte, Fragen; erst danach wurde daraus ein Interview fingiert.
Daß im persönlichen Rahmen, in ungezwungener Atmosphäre bei einem dreiwöchigen Privataufenthalt unbedachte Äußerungen fallen, ist gewiß nicht ungewöhnlich und besonders beim spontanen und redefreudigen Charakter des Kaisers plausibel. Auch der Autor des Interviews selbst konstatierte, daß der Kaiser mit „impulsivem und ungewöhnlichem Freimut“ sprach.

Der damalige Hauptkritikpunkt in Deutschland, daß das Interview zu englandfreundlich gewesen sei, kann heute nicht mehr gelten und sollte heute im Gegenteil eher ein positiver Beleg für den Kaiser sein: Er distanzierte sich im Interview von englandfeindlichen Stimmungen in Deutschland.

Die Daily Telegraph-Äußerungen des Monarchen waren vielleicht zu offenherzig und undiplomatisch, an ihrer wohlwollenden Absicht kann kein Zweifel herrschen. Gewiß hatte Wilhelm II. überspitzt formuliert und unglücklich argumentiert (was der Reichskanzler vor der Veröffentlichung hätte korrigieren können), aber die Äußerungen waren den historischen Tatsachen entsprechend.
Wilhelm selbst schrieb in seinen Memoiren über das Interview:
„Sein Zweck war die Besserung der deutsch-englischen Beziehungen. […] Ich habe unter dieser ganzen Angelegenheit seelisch schwer gelitten.“ (Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten. Leipzig 1922, S. 98f.)

Noch 1907 hatte Wilhelm II. als Zeichen der deutsch-englischen Freundschaft eine Statue des britischen Königs William III. von Orange für den Kensington Palace in London gestiftet, vor dem sie noch heute steht.

Reichskanzler Bülow versäumte seine Pflicht, das zum „Interview“ umgestaltete Gespräch vor der Veröffentlichung zu korrigieren. Wilhelm II. handelte korrekt und legte es dem Kanzler zur Überarbeitung vor. Ein „persönliches Regiment“ fand hier also nicht statt.

Fürst von Bülow, Reichskanzler 1900-1909: Korrektur des Interviews unterlassen

Wilhelm II. war mit der Veröffentlichung des Artikels im Daily Telegraph grundsätzlich einverstanden, hielt aber einige Streichungen für notwendig und leitete den Text an seinen Reichskanzler Bülow weiter mit der Aufforderung, den Text durchzusehen und etwaige Änderungen bzw. Korrekturen vor der Veröffentlichung vorzunehmen. Die Aussagen Wilhelms II., die von der englischen Öffentlichkeit als undiplomatisch aufgefaßt werden konnten, hätten vor der Veröffentlichung somit korrigiert werden können.

Bülow (1849-1921), seit acht Jahren Reichskanzler und mit der Problematik der zunehmend negativen Reaktionen der Öffentlichkeit auf Äußerungen Wilhelms wohlvertraut, folgte der Weisung des Kaisers jedoch nicht. Nach eigenen Angaben las er den Text überhaupt nicht, sondern leitete diesen an Untergegebene des Auswärtigen Amtes weiter. Dort erfuhr das „Interview“ nur minimale Änderungen, und Bülow schickte es an den Kaiser zurück, womit der Veröffentlichung nichts mehr im Wege stand.
Der Historiker Wolfgang Mommsen stellte fest: „Der Kaiser hatte sich also vollkommen korrekt verhalten; in verfahrensmäßiger Hinsicht war alles ordnungsgemäß abgelaufen.“ (Wolfgang Mommsen: War der Kaiser an allem schuld? Berlin 2002, S. 143)

Neueste Forschungen zeigen, daß der Reichskanzler das Interview sehr wohl gelesen hatte und es dennoch unterließ, Korrekturen vorzunehmen.

Der Vorwurf des „persönlichen Regiments“ trifft in der Daily Telegraph-Affäre also nicht zu, da der Kaiser das Interview nicht einfach eigenmächtig freigab, sondern ausdrücklich den Reichskanzler konsultierte und um vorherige Korrektur bat.

Reichskanzler Bülow übernahm nicht die Verantwortung dafür, die Korrektur des Interviews unterlassen zu haben. Statt dessen ließ er zu, daß in der Öffentlichkeit allein der Kaiser als Verantwortlicher für die Affäre betrachtet wurde.

Reichskanzler Bülow und andere Bürokraten boten nach Veröffentlichung des „Interviews“ zwar spontan ihre Entlassung an, ohne jedoch freilich ausdrückliche Verantwortung zu übernehmen. Wilhelm II. lehnte ab und erwartete, daß sich der Reichskanzler im Gegenzug vor den Kaiser stellen und die Tatsachen richtigstellen würde. Dies tat der Kanzler aber nicht – im Gegenteil: Weder vor dem Reichstag (10.11.1908) noch vor der Presse übernahm Bülow die Verantwortung für die unkorrigierte Veröffentlichung des Interviews.

Zudem behauptete Bülow, das Interview selbst nicht gelesen zu haben und schob die Verantwortung auf Untergebene im Auswärtigen Amt ab. Wilhelm II. jedoch wußte, daß der Kanzler das Interview sehr wohl persönlich gelesen hatte.
Neueste Forschungsergebnisse bestätigen dies nicht nur, sondern belegen sogar, daß Bülow nachträglich Schriftstücke manipulieren ließ, um seine Schuld zu vertuschen. Der Kanzler hatte also auch noch die Öffentlichkeit belogen.

Wilhelm II. fühlte sich verständlicherweise von seinem Kanzler verraten, das Band zwischen beiden war zerschnitten. Erst im März 1909 versöhnten sich Wilhelm II. und Bülow wieder, nachdem sich dieser beim Kaiser in einem Gespräch unter vier Augen für sein Verhalten entschuldigt hatte.

Wilhelm II. entließ Reichskanzler Bülow nicht allein aus Groll über die Daily Telegraph-Affäre, sondern auch, weil dieser 1909 keine regierungsfähige Mehrheit im Reichstag mehr hatte.

Der „Novembersturm“ (Wilhelm II. über die Daily-Telegraph-Affäre) hatte sich gelegt. Im Sommer des darauffolgenden Jahres 1909 aber war Bülows Politik in eine Sackgasse geraten: Sein liberal-konservatives Bündnis („Der Block“) zerbrach an der Ablehnung der Erbschaftssteuer und an der geplanten Reform des preußischen Wahlrechts. Am 14.07.1909 trat Bülow zurück und empfahl dem Kaiser, Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921) zu seinem Nachfolger zu bestellen. Obwohl der Kaiser anfangs Bedenken hatte, folgte er schließlich dem Ratschlag des scheidenden Kanzlers.

Fazit

Die Daily Telegraph-Affäre war eine der größten monarchischen Krisen im Kaiserreich und hatte Wilhelm II. nachhaltig beschädigt. Noch nie zuvor mußte ein deutscher Kaiser danach solche Zugeständnisse machen. Auch heute noch wird die Affäre fälschlicherweise als einer der Hauptbelege für ein „persönliches Regiment“ des Kaisers gesehen. Dabei wird außerdem übersehen, daß der damalige Hauptkritikpunkt darin bestand, daß sich der Kaiser zu englandfreundlich (!) geäußert habe und heute hinfällig ist.

Maximilian Harden, Initiator der „Eulenburg-Affäre“

Das Jahr 1908 war für den Kaiser insgesamt ein Krisenjahr, das weitrechende Folgen auch für die öffentliche Position des Monarchen und sein Ansehen in Deutschland hatte.

Die im selben Jahr von dem rechtsradikalen Schriftsteller und Journalisten Maximilian Harden (eigentlich Felix Ernst Witkowsky; 1861-1921) in Gang gesetzte „Eulenburg-Affäre“ hatte Wilhelm II. bereits erheblichen Schaden zugefügt. Der Kaiser wurde hier bezichtigt, sich in einem „unmännlichen, homoerotischem Umfeld“ (dem „Liebenberger Kreis“) zu bewegen, was ihn zu „weich“ mache für einen harten außenpolitischen Kurs. Zentrale Figur dieses ersten großen Medienskandals war der enge Vertraute des Kaisers, Philipp Fürst von Eulenburg. Unmittelbar an die Eulenburg-Affäre schloß sich dann die Daily Telegraph-Affäre an.

Der Historiker Martin Kohlrausch bestätigt, daß beide Krisen in ihrer Gesamtwirkung die Monarchie fundamental und nachhaltig beschädigten: „Die Substanz der Krise der Monarchie von 1908 lag im Zusammenhang zwischen dem Schock zweier Skandale, die soweit gingen, die Abdankung des Monarchen in den Bereich des Möglichen zu bringen, und der gleichzeitigen Gewöhnung hieran.“ (Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Berlin 2005, S. 292)

Das Selbstvertrauen des Kaisers schwand im Zuge der beiden Skandale, die Affären hinterließen Spuren in der Psyche des Kaisers: „Gesundet ist er niemals wieder von diesem Schlage“, stellte sein Sohn, Kronprinz Wilhelm, später fest.