Eine kleine Geschichte der Bagdadbahn

von Andreas Lombard

Im Herbst 1912 erschien in der „Täglichen Rundschau“ der Bericht eines Reisenden. Er hatte in Konstantinopel den Zug nach Ismid, dem antiken Nikomedia, bestiegen. Die neunzig Kilometer lange Strecke, am Beginn der legendären Bagdadbahn, war seit 1872 in Betrieb. Sie folgte dem alten Weg von Kriegern, Kreuzrittern und Karawanen. Adalbert Zimmermann schrieb:

Zug der Bagdadbahn, um 1900

„Um acht Uhr geht der Zug, und die Eisenbahnen sind in der Türkei pünktlich. Der Bahnhof von Haidar Pascha ist der größte und prächtigste der Türkei – der architektonische Heroldsruf der Auferstehung Anatoliens zu neuem, europäischem Leben. Ringsum trauern alte Zypressen über stillen Osmanengräbern. Auf dem Bahnsteig ein lärmendes, schwatzendes Durcheinander von Männern im Tarbusch und von Czapkalis – Hutträgern – mit Frauen und Kindern. Hamals (Lastträger) schleppen das Gepäck. Offiziere gehen plaudernd auf und ab, ganz wie die Leutnants zu Hause, nur daß sie nicht flirten, wenigstens nicht wahrnehmbar; denn so etwas gibt es für die Bekenner des Propheten nicht. Die Türken, die mitfahren, passen von weitem auf, daß ihre Frauen richtig verstaut werden. Es sind Gemütsmenschen; viele von ihnen fahren erster oder zweiter Klasse, ihre Weiber aber müssen erbarmungslos in das überfüllte Haremlik dritter Güte hinein und richten sich dort zankend und schreiend mit ihren Habseligkeiten ein. Der Zug ist ziemlich lang. Seine Durchgangswagen sind nach dem Muster unserer Speise- und Schlafwagen gebaut, so daß der Zug als Ganzes einen höchst feudalen Eindruck macht. Auch ein paar Güterwagen laufen mit. Einer davon steckt voller Rekruten, die in der europäischen Türkei ausgehoben worden sind und nun nach irgendeiner Garnison Anatoliens verfrachtet werden.“

Die Bagdadbahn war das „Eisenband“ um Orient und Okzident. Sie versprach die Verwandlung durstiger Steppen in fruchtbare Felder. Wo sich die Kontinente berührten und die Wege der Großmächte schnitten, wo Völker und Reiche sich über Jahrtausende grausame Kriege geliefert, wo in Antike und Mittelalter reiche Handelsstädte geblüht hatten, da sollten nach Jahrhunderten des Verfalls Frieden und Wohlstand einkehren. Das syrische Aleppo, verkündete der Orientreisende Paul Rohrbach, werde das Antiochia des 20. Jahrhunderts sein. Befeuert von Babylon und Ninive, von Nebukadnezar und Lawrence von Arabien, von Karl May und den Märchen aus Tausendundeiner Nacht, entwickelte die Dampfmaschine ihre stärkste Kraft. Sie öffnete den Menschen die Weite des Raums und die Tiefe der Zeit. Sie war kein Verkehrsmittel, sie war der Schlüssel zur „Kornkammer Roms“, zum biblischen Paradies.

Viele „Osmanli“ sahen zum ersten Mal Geld für ihre Arbeit. Die Anführer der in Kleinasien wütenden Räuberbanden wurden Stationsvorsteher der anatolischen Eisenbahngesellschaft. Deutsche Baumwolle wuchs bei Adana, schwäbische Bauern schmiedeten Siedlungspläne und das Osmanische Heer genoß militärische Entwicklungshilfe. Den Bahnhof von Haidar Pascha errichtete die Baufirma „Philipp Holzmann & Cie.“. Der Schienenstrang nach Mesopotamien galt als das großartigste Unternehmen deutscher Weltpolitik.

Als Deutschland jene Achse, um die sich immer noch die Welt dreht, zum Schauplatz seiner „Politik der freien Hand“ machte, schreckte es die anderen imperialistischen Mächte auf. Dem deutschen Ziel, mit der Ausweitung der Kapitalgeber auch den Fortbestand des Osmanischen Reiches zu sichern, mochten sie nicht folgen. Kaiser Wilhelm II. träumte davon, mit Deutschland, England und Frankreich dem einigen Europa eine Kraft zu geben, die Amerika wirtschaftlich die Stirn bieten könne. Er wollte als ein Ebenbürtiger auftreten und dafür sogar die Gründung eines jüdischen Staates dem „verlogenen Krämervolk“ der Engländer streitig machen, indem er im Rahmen seiner Orientreisen beim Sultan für die zionistischen Pläne Theodor Herzls warb. Großbritannien gab mit eben diesem Projekt, das es keineswegs den Deutschen zu überlassen bereit war und das 1917 in der Balfour-Deklaration gipfelte, seiner Nahostpolitik die höchste Weihe. Es fürchtete als potentieller Erbe des „kranken Manns am Bosporus“ den trockenen Weg nach Indien als Konkurrenz zum Suez-Kanal, den es seit der Besetzung Ägyptens 1882 nicht nur finanziell, sondern auch militärisch kontrollierte. Es fürchtete um seine Stellung an der Mündung von Euphrat und Tigris und suchte daher die Bagdadbahn finanziell und durch Proteste bei der Hohen Pforte nach Kräften zu behindern. Vergeblich warben die Deutschen um eine Beteiligung der Briten. Frankreich, das seine Interessen in Syrien bedroht sah, schloß sich dem Widerstand an, ebenso Rußland, das sich über einen Schienenweg von Mesopotamien nach Persien sorgte.

Georg von Siemens, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, führte bis zu seinem Tod 1901 die Verhandlungen über den Bau der Bagdadbahn.

Georg von Siemens, ein Neffe des Erfinders und Unternehmensgründers Werner von Siemens, sah die Sache entsprechend nüchtern. Der Bankier und Politiker, Vorstandssprecher der Deutschen Bank seit 1870, führte bis zu seinem Tode 1901 die Verhandlungen zum Bau der Bagdadbahn, die 1892 Angora (Ankara) und 1896 Konya erreichte. Er wollte jene staatlichen Garantien von der Türkei erlangen, die Bismarck, obwohl kein grundsätzlicher Gegner des Projekts, ihm zu geben sich geweigert hatte. Die Guthaben seiner Anleger gingen ihm vor. Kolonialistische Töne erhöhten nur das Geschäftsrisiko. Wilhelm II. aber nutzte 1898 in Damaskus seine Freundschaftsadresse an Sultan Abdul Hamid II. dazu, die dreihundert Millionen Mohammedaner („die, auf der Welt zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren“) zu Freunden des Deutschen Reiches zu erklären. Das lag ganz auf der Linie des Auswärtigen Amts, eines Tages den „Fanatismus des Islam“ zu erregen, um das Deutsche Reich als neue Vormacht in Stellung zu bringen. Siemens ging einen anderen Weg. Der Historiker Manfred Pohl schreibt: „In einem geheimen Anhang zur Bagdadbahn-Konvention von 1903 sicherte die Deutsche Bank zu, weder eine deutsche noch eine andere Emigration in die Türkei zu fördern.“ Prominente Deutsche und ganze Reisegruppen wollte man von Bahnfahrten abbringen.

Sultan Abdul Hamid II. wollte nach diversen Kriegen und dem Staatsbankrott von 1875 seinem niedergehenden Reich ein starkes Rückgrat geben ­– und seine Truppen per Bahn verschieben können. Er gab den Investoren eine Kilometergarantie, für die er Steuereinnahmen verpfändete. Die ab 1870 errichteten Teilstrecken wuchsen bald zu einem lukrativen Schienenweg zusammen. Seit 1889 verkehrte auch der „Orientexpress“ – so rückte Südanatolien vor die Haustüren von Paris.

1890 übernahmen die Deutsche Bank und der Wiener Bankverein die Aktienmehrheit an der Betriebs-Gesellschaft der Anatolischen Eisenbahnen des Baron von Hirsch und bauten zügig weiter. 1898 steigt immerhin die Banque Ottomane mit 40 Prozent ein. Siemens, stets um internationale Partner werbend, bleibt skeptisch. Schließlich könne man „zum gleichen Diskont Wechsel auf gute deutsche Häuser kaufen“.

Aber ein Rückzug hätte den deutschen Botschafter in Konstantinopel, Marschall von Bieberstein, seinen Posten gekostet, den Sultan gedemütigt, den Kaiser enttäuscht und den europäischen Mächten große Schadenfreude bereitet. 1900, ein Jahr vor seinem Tode, reist Siemens nach England, das seine Interessen in Basrah und Kuwait verteidigt. Die Verhandlungen scheitern wieder. Siemens' Nachfolger Arthur von Gwinner erhält am 5. März 1903 die endgültige Konzession für den Weiterbau über Adana, Mossul, Samarra, Bagdad und Basrah an einen noch zu bestimmenden Ort am Persischen Golf sowie für den Betrieb auf 99 Jahre – nicht ohne erneut türkische Anleihen zu zeichnen und sämtlichen Würdenträgern Bakschisch zu zahlen: „Der Sultan selbst schickte uns von Zeit zu Zeit unter den tollsten Vorwänden neue Leute auf den Hals, die befriedigt werden mußten.“

Daraufhin errichtet die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft am 13. April 1903 die „Société Impériale du Chemin de Fer de Bagdad“ mit einem Aktienkapital von 15 Millionen Francs unter Federführung der Deutschen Bank und Beteiligung der Banque Ottomane, des Wiener Bankvereins sowie der Schweizer Kreditanstalt. 1904 erhält die Anatolische Bagdadeisenbahn-Gesellschaft eine Konzession für Erschließung und Abbau der mesopotamischen Ölvorkommen. Das englisch-französische Bündnis desselben Jahres und das englisch-russische Bündnis von 1907 schließen den Ring um das Deutsche Reich. 1908 stürzen die Jungtürken den Sultan. Trotz des türkisch-italienischen Krieges und trotz der Balkankriege beginnt 1912 der Bahnbau in Bagdad. Im Sommer 1914 wird endlich eine Einigung mit England, nämlich ein Abkommen über Bewässerungsanlagen und Ölförderung in Mesopotamien sowie über den Hafenbau am Persischen Golf unterschriftsreif, aber es ist zu spät.

Die Türkei tritt an der Seite der Mittelmächte in den Krieg. Nun wird die Bahn aus militärischen Gründen, aber mit „Heeresuntauglichen“ weitergebaut. Am Ende des Ersten Weltkriegs fährt sie durch das Taurus- und Amanusgebirge. Es fehlt nur noch ein Abschnitt von 300 Kilometern mit Mossul in der Mitte; der wird 1940 geschlossen.

Die schnelle Niederlage Serbiens hat dem Deutschen Reich die Nachschubwege in die Türkei geöffnet; Großbritannien antwortet 1915 mit der vergeblichen und verlustreichen Dardanellen-Offensive. Über den Völkermord an den mit Hammelwaggons deportierten Armeniern schreibt die Bahngesellschaft drastische Berichte, kann aber nur einige armenische Angestellte und deren Familien retten. Ab März 1917 rücken die Briten über Bagdad nach Norden vor.

Der Weltkrieg endet mit der Zerschlagung des Osmanischen Reiches. Aus den französischen und englischen Mandatsgebieten entstehen später die Staaten Syrien und Irak. Großbritannien kann seine Vormachtrolle auf Dauer nicht halten. Die Bagdadbahn, die zunächst unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte, zerfällt gegen den Willen Großbritanniens aber in nationale Teilstrecken. Sie erzählt also auch vom Niedergang des Empire.

Der Verlauf der Bagdadbahn (in rot)

Ihr Bau bleibt eine beeindruckende Leistung, denn die Schwierigkeiten mit Arbeitern, Gelände und Material waren immens. Das Räuberwesen stand „in hellem Flor“. Im Herbst kam das Denguefieber, im Winter die Influenza, und im Landesinneren grassierte die Viehseuche. Die internationale Stimmung war geprägt von diplomatischen Demarchen, Anfragen in den Parlamenten und Polemiken in den Zeitungen. Die Engländer blieben abseits, und Rußland lehnte 1899 sogar Siemens Verkaufsangebot ab. Daß die Deutsche Bank im Jahre 1924 – trotz Weltkrieg! – zufrieden auf ihre Investition zurückblicken würde, war unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Im Warenverkehr lohnte sich die schnelle Belieferung der Mittelmeerhäfen. Im Personenverkehr brachten die Pilger Geld ein, die auf die Hedschasbahn nach Mekka und Medina umstiegen. Der „Agrikulturdienst“ der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft brachte verbessertes Saatgut und neue Bewässerungsanlagen nach Konya, so daß die Steuereinnahmen später die Garantiezahlungen des Sultans übertrafen.

Die Bagdadbahn hatte es dennoch nicht vermocht, wie Rohrbach und Bieberstein einst hofften, „die Tore ihres Gebiets für die wirtschaftliche Betätigung aller Nationen gleich offen zu halten“. Aber war es deshalb falsch, sie in Angriff zu nehmen? Karl Helfferich, der 1906 von der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts zur Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft gewechselt hatte und 1908 Vorstandsmitglied der Deutschen Bank geworden war, schrieb nach dem Krieg über die Türkei-Politik des Kaiserreichs: „Die große Frage war, ob Deutschland in seiner politischen und ebenso in seiner wirtschaftlichen Betätigung alles vermeiden wollte, was geeignet war, die Gefahr solcher Reibungen hervorzurufen. Es hätte dann nicht nur auf den Erwerb von Kolonien und Stützpunkten, auf den Ausbau seiner Kriegsflotte, auf eine Politik der Selbständigerhaltung großer und wichtiger Wirtschaftsgebiete verzichten müssen, sondern ebensosehr auf die Entwicklung seiner Industrie, seines Außenhandels und seiner Handelsflotte.“

Golo Mann über die Bagdadbahn

„Der Bau der Bagdadbahn war eine jener Leistungen des Wirtschaftsimperialismus, die man nur positiv bewerten kann. Es gab keinen Rechtsgrund, keinen moralischen Grund, warum deutsche Industrie sich nicht in der Türkei sollte nützlich machen dürfen zu ihrem eigenen und anderer Leute Vorteil.“

— Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958