Das Deutsche Kaiserreich

1871 bis 1914: Der Weg in die Moderne

Heft 3/2013 aus der Reihe „DER SPIEGEL – GESCHICHTE“ Juni 2013 7,80 €

Das deutsche Kaiserreich. 1871 bis 1914: Der Weg in die Moderne

Das Cover der Ausgabe 3/2013 von „DER SPIEGEL – GESCHICHTE“ könnte schöner nicht sein: im Vordergrund übergroß Kaiser Wilhelm II.in Uniform mit Pickelhaube, links hinter ihm: marschierende Soldaten, Kriegsschiffe in Linie und ein Zeppelin; rechts hinter ihm: August Bebel, der Führer der Sozialdemokraten, vor wehenden roten Fahnen und Industrie-Architektur mit Förderturm und Schornstein. Darunter der Titel: Das Deutsche Kaiserreich. 1871-1914: Der Weg in die Moderne.

Für jeden unbedarften Leser muß das Cover folgenden Schluß nahelegen: Wilhelm II. war die dominierende Figur jener Zeit, er hat sie geprägt wie kein zweiter, er steht sprichwörtlich im Vordergrund. Und offenbar ist es ihm gelungen, die widerstreben­den Tendenzen seiner Zeit – Machtstaat und soziale Frage – zusammenzuführen. Jedenfalls scheint sich hinter seinem Rücken kein Kampf anzubahnen, der Kaiser wirkt vielmehr als einende Kraft. Ein Cover also, das die historische Realität treffend widerspiegelt.

Nach der Lektüre der 146 Seiten wird jedoch recht schnell klar, daß die Gestalter dieses Cover deshalb gewählt haben, weil sie sich sicher sein können, daß der Zeitgenosse eine ganz andere Assoziation mit dieser Collage verbinden wird: nämlich den Militaristenkaiser, der jede freiheitliche Regung mit seiner Militärmaschine unterdrückt und der nicht bereit ist, der Sozialdemokratie auch nur einen Fußbreit Boden zu gewähren. Daß er damit den Ersten Weltkrieg verschuldet habe, dürfte in den Köpfen inzwischen so fest verankert sein, daß leichte Anspielungen (die sich über das ganze Heft verteilen) dahingehend genügen.
Wem diese Assoziationen nicht sofort kamen, der dürfte seine anfangs positive Interpretation des Covers spätestens nach der Heftlektüre überdenken und den Kaiser mit anderen, deutlich negativeren, Augen sehen – sicher ganz im Sinne der Herausgeber.

Wie bereits die einleitende „Hausmitteilung“ (das Vorwort) zeigt, stehen die Macher des Heftes vor einem Dilemma: „Die erste deutsche Einheit im Kaiserreich von 1871 entfesselte ungeheure Kräfte. In kurzer Zeit stieg das Land in den Kreis der europäischen Großmächte auf, seine Stahl- und Elektroindustrie nahm einen rasanten Aufschwung. Für das gesellschaftliche Klima des Reichs waren Militarismus und Untertanengeist weiterhin prägend.“
Das Dilemma besteht darin, den unleugbaren Erfolg des Kaiserreichs zu dämonisieren, was am besten durch geschickt gestreute Adjektive gelingt; so kann man die Ereignisse schildern und sich gleichzeitig von ihnen distanzieren, indem man sie in einem zwiespältigen Licht erscheinen läßt. Und so begegnet uns bereits auf der sechsten Zeile des Heftes der „prahlerische“ Kaiser Wilhelm II. Damit ist die Marschrichtung vorgegeben, in der insbesondere die 26 Jahre der Vorkriegsherrschaft Wilhelm II. abgehandelt werden.

In dem Interview mit dem Historiker Michael Stürmer, der die ein oder andere Unterstellung der Frager, etwa bezüglich der Bewertung der Sozialistengesetze oder der Gefährlichkeit der deutschen Außenpolitik nach 1890 relativiert, kommt Wilhelm II. als der „oberflächliche und buchstäblich unverantwortliche Kaiser“ und „großsprecherischer Enkel“ von Wilhelm I. denkbar schlecht weg: „Er hatte wohl etwas Pathologisches.“ Andererseits muß Stürmer zugeben: „Vielleicht wäre er auch bei einer direkten Wahl mit seinem Auftreten, seiner Theatralik, seinem politischen Sexappeal erfolgreich gewesen.“ (Was nur zwei Schlußfolgerungen zuläßt: Schön, daß diese Zeiten überwunden sind und es heute keine Direktwahl des Staatsoberhaupts gibt.) Abgebildet ist daneben der bekannte 100-Mark-Schein von 1906, der eine Germania unter Eichen und eine vorbeiziehenden Kriegsflotte zeigt. Stürmer macht daraus: „Das war eine Schlachtflotte auf der Suche nach einem Gegner!“ Daß die Schiffe in Linie fahren und keineswegs ausschwärmen, also vielmehr zum Schutz der Reichsgrenzen aufziehen, kommt Stürmer nicht in den Sinn. Deutschland hatte keinen Grund, jemanden anzugreifen.

Der Trick, den die Autoren bei den vorangestellten ganzseitigen Bildern anwenden, besteht zudem darin, die Ereignisse und Personen aus dem Kontext der Zeit zu lösen.
Über Wilhelm I., den Großvater Wilhelms II., heißt es dort: Er „hielt nichts von Freiheit und Mitbestimmung des Volkes. Doch die meisten seiner Untertanen verehrten ihn, da er ihnen den Traum von der Einheit des Reiches erfüllt hatte“. Freiheit heißt für die Autoren also primär, seinen Wahlzettel ausfüllen zu dürfen. Und: Die zeitgenössische Verehrung muß in der bedauernswerten Unmündigkeit der Leute ihre Ursache gehabt haben.

Ein weiteres Beispiel für die manipulative Vorgehensweise der Heftmacher:
Zwei noch halbwegs korrekte Sätze suggerieren durch die Zusammenstellung etwas anderes: „Deutsche Firmen stießen technologisch zur Weltspitze vor. Ein Heer von Arbeitern stand im Dienst der verhängnisvollen Aufrüstung.“ Damit wird fälschlicherweise nahegelegt, daß der wirtschaftliche Erfolg der Aufrüstung zu verdanken war und der Platz an der Weltspitze gleichsam illegitim errungen wurde.

Der angebliche Militarismus ist ein in dem Heft oft thematisierter Mißstand der damaligen Gesellschaft. Man wirft ihr nicht nur vor, daß der Reserveoffizier so etwas wie ein role model der Zeit war, sondern auch, daß in der preußischen Armee unmenschliche Zustände geherrscht hätten und sich jedes Jahr 20.000 (!!! – eine Zahl, die jeglicher Grundlage entbehrt) Männer durch Desertation dem Wehrdienst entzogen hätten. Dabei fällt auf, daß die Autoren einen Einzelfall (den Hauptmann von Köpenick) verallgemeinern (was ein Schriftsteller darf, eines Historikers aber unwürdig ist), unhinterfragt Behauptungen der SPD aus den 1890er Jahren übernehmen (und diese nicht überprüfen) und auch sonst merkwürdige Vorstellungen von den Funktionsvoraussetzungen des Militärs haben, wenn sie bedauern, daß die Vorgesetzten nicht von den Untergebenen gewählt wurden (wie sich das einige Träumer von 1848 ausgemalt haben).
Mißstände gab und gibt es in jeder Armee, die preußische macht da natürlich keine Ausnahme. Das einzige, was Aufschluß über die tatsächlichen Umstände bieten kann, ist der Vergleich mit anderen zeitgenössischen europäischen Armeen. Und da steht die preußische gut da.
Doch selbst wenn wir sie mit heutigen vergleichen, bleibt von den Vorwürfen nicht viel übrig: Wenn die US-Streitkräfte 2012 mehr Soldaten durch Selbstmord (349) als durch Feindeinwirkung oder Unfall verloren haben, sagt das einiges.
Verräterisch auch, daß die Autoren zugeben müssen, daß die (unterdrückten) Arbeiter das „Militär als Institution“ keineswegs ablehnten!

Karikatur August Bebels in der Satirezeitschrift Kladderadatsch, 1903

Überhaupt scheint die SPD den Autoren derart am Herzen zu liegen, daß sie sogar ein ausführliches Zitat Arthur Moellers van den Bruck bringen, in dem dieser die Sozialdemokraten als Idealisten in materialistischer Zeit feiert. August Bebel erscheint als Vorkämpfer der Meinungsfreiheit und sozialen Fortschritts, an dem nur seine Feindschaft gegen Rußland und seine Begeisterung für das Militär (!) gescholten wird.
Daß Bebel ebenso machtbewußt wie die offiziellen politischen Führer Deutschlands war, wird nicht eigens thematisiert. Bebel unterdrückte jegliche Opposition der Partei, wurde damit zum Sinnbild des innerparteilichen Diktators. Diese Tatsache wird heute gern verschwiegen, war jedoch den Zeitgenossen, sowohl linken als auch liberalen Gegnern Bebels, durchaus bewußt. Entsprechend wurde gegen ihn polemisiert.
Es ist daher ein Witz, daß die Autoren ihre Eloge mit folgendem Zitat Bebels beschließen: „An dem Tage, an dem die Meinungsfreiheit in der Partei beschränkt werden könnte, wäre die Partei moralisch tot.“

August Bebel wird auf 10 Seiten gewürdigt, der Kaiser erhält dagegen nur zwei. Und diese stammen ausgerechnet vom bekannten Kaiser-Kritiker John Röhl, der selbst unter Historikern nicht gerade als objektiv gilt und aufgrund seiner einseitigen Sichtweisen umstritten ist.
Die Quintessenz seines Beitrags ist dementsprechend auch nicht überraschend: Der unfähige, gar „brutale“ Wilhelm II. wollte selbst regieren und führte Deutschland in den Untergang.

In anderen Artikel setzen sich die bereits eingangs erwähnten rein negativen Charakterisierungen des Kaisers fort: „für kindliche Begeisterung anfällig“, „sprunghafter Monarch“. Wilhelm II. zeige sich „als eitler, gefährlicher Schwadroneur, sprunghaft, leicht beeinflußbar, ohne Weitblick und frei von Verantwortungsgefühl“.
Viele dieser Herabsetzungen resultieren aus Zitaten des Reichskanzlers Bernhard von Bülow, dessen Memoiren eine unerschöpfliche Quelle für Absonderlichkeiten des Kaisers sind.
Der Haken: Die Memoiren sind unglaubwürdig und von Bülow vor allem zur Selbstexkulpation verfaßt worden. Aber auch das hat sich noch nicht überall herumgesprochen.

Fazit

Als Fazit bleibt: Die Autoren können das eingangs erwähnte Dilemma nicht lösen. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man das Heft als ganzes nimmt.
In sämtlichen Beiträgen, die sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kaiserreichs beschäftigen, sei es Militär, Kunst, Massenkultur, Frauenemanzipation, Wirtschaft, Rechtspflege oder auch die enorm verbreiteten satirischen Zeitschriften: Immer wird der Leser einen Widerspruch zwischen den genannten historischen Fakten und der überheblich-höhnischen Wertung derselben durch die SPIEGEL-Autoren bemerken und sich hoffentlich die Frage stellen:
Wie despotisch war ein Staat wirklich, in dem die Staatsgegner, die Sozialdemokraten, von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilen konnten, in dem der Pazifist Ludwig Quidde von seinem antikaiserlichen Pamphlet Caligula in kurzer Zeit 150.000 Stück verkaufen konnte, in dem die Simplicissimus-Autoren dem bayerischen Landtag den Krieg erklären konnten, in dem der sozialkritische Schriftsteller Gerhart Hauptmann zum erfolgreichsten Bühnenautor werden konnte?