1919
Theobald von Bethmann Hollweg: „Betrachtungen zum Weltkriege“

„Der Kaiser stand tief unter dem Eindruck unserer Unklammerung. Wenn er von Zeit zu Zeit in temperamentvollen Äußerungen die starke Weltstellung Deutschlands feierte, so leitete ihn doch nur der Wunsch, die Nation, deren ungeahnter Aufschwung ihn mit selbstbewußtem Stolz erfüllte, zu immer neuer Steigerung ihrer Kräfte anzuspornen und den Alltag mit dem Drang seiner enthusiastischen Natur zu beflügeln. Stark und wehrhaft wollte er sein Volk, aber deutsche Mission, die ihm innerster Glaube war, sollte eine Mission der Arbeit und des Friedens sein. Daß diese Arbeit und dieser Friede durch die uns umlauernden Gefahren nicht zerstört werden, war seine unablässige Sorge.

Wiederholt hat mir der Kaiser erzählt, daß er seine Tangerfahrt im Jahre 1904, von der er wohl wußte, daß sie uns in gefährliche Engagements verwickeln würde, sehr gegen eigenes Wollen und nur auf Drängen seiner politischen Ratgeber unternommen habe, wie sich denn auch sein persönlicher Einfluß auf friedliche Erledigung der Marokkokrisis des Jahres 1905 sehr stark geltend gemacht hat.

Und dem gleichen Friedensbedürfnis war doch auch seine Haltung während des Burenkrieges sowohl wie im russisch-japanischen Kriege entsprungen. Einem kriegerisch gesinnten Herrscher hätten Gelegenheiten zum militärischen Eingreifen in die Welthändel wahrlich nicht gefehlt.

Deutsche Kritik hat schon damals wiederholt bemängelt, daß durch zu häufige öffentliche Betonung unserer Friedfertigkeit weniger der Frieden gefördert, als umgekehrt die Entente in ihrer eine Änderung des status quo erstrebenden Politik bestärkt werde. In einer auf materiellen Macht pochenden, die Erhaltung des Weltfriedens akzidentell berücksichtigenden Periode des Imperialismus, wie es die letzten Jahrzehnte vor dem Kriege waren, sind solche Betrachtungen unzweifelhaft bedeutungsvoll, und vielleicht erklärt sich auch manches, deutsche Kriegsmacht stark herausstreichende Wort des Kaisers aus ähnlichen Erwägungen.

Gewiß minderten solche Äußerungen die allgemeine Nervosität nicht herab, welche die internationale Atmosphäre erfüllte. Ihren wirklichen Nährboden hatte die Weltunruhe doch in der Politik der balance of power, die darauf hinauslief, Europa in zwei einander mißtrauende, waffenstarrende Lager zu scheiden.

Auch kannten die Botschafter der Großmächte den Kaiser persönlich nahe genug, um genau zu wissen, daß seine Intentionen trotz allem die friedfertigsten waren, und es hat einer nur durch Kriegspsychose erklärlichen Unwahrhaftigkeit bedurft, um der Welt das haßerfüllte Zerrbild eines nach Weltherrschaft, Krieg und Blut lechzenden Tyrannen vorzutäuschen.

Vielleicht liegt die größte Tragik des Geschicks, das den Kaiser betroffen hat, in dieser namenlosen Entstellung eines tief innerlich von den Idealen des Friedens erfüllten Willens, und wem es wie mir beschieden war, nach jahrelangem, vertrautem Gedankenaustausch die Leidenschaftlichkeit mitzuempfinden, mit der dieser Wille in dem unheilvollen Sommer 1914 nach einem friedlichen Ausweg gesucht hat, der kann ahnen, in welchem Grade der gewaltige Schmerz um den Niederbruch Deutschlands durch solche Schändung innerster und auf überzeugtes Christentum gegründeter Gesinnung verbittert werden mag.“

Quelle: Theobald von Bethmann Hollweg: „Betrachtungen zum Weltkriege“, Berlin 1919, S. 12-14

Der ehemalige deutsche Reichskanzler (1909-1917) Theobald von Bethmann Hollweg erinnerte sich in seinem Buch „Betrachtungen zum Weltkriege“ (1919) an den letzten Kaiser Wilhelm II. und dessen stetige Bemühungen zur Erhaltung des europäischen Friedens.

Bereits im April 1913 hatte Bethmann Hollweg gegenüber dem bayerischen Gesandten Hugo Graf Lerchenfeld bekundet, er erblicke in einem künftigen Krieg keinen Motor für die innere Gesundung Deutschlands, sondern den Beginn einer Katastrophe allergrößten Ausmaßes, der gegenüber alle vorangegangenen Kriege bloße Kinderspiele gewesen seien.

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