Friede oder Hohenzollern?
Deutschland im Herbst 1918

von Dr. Erik Lehnert

Die Ereignisse, die im Herbst 1918 zum Thronverzicht und schließlich zur Abdankung von Kaiser Wilhelm II. führten, sind in der geschichtspolitischen Propaganda der letzten 100 Jahre zu einem Prozeß umgedeutet worden, der etwas längst Überfälliges vollzogen hätte.
Da der Kaiser und das kaiserliche Deutschland im Versailler Vertrag als Alleinschuldige am Ersten Weltkrieg benannt wurden, konnte es keinen anderen Weg geben. Das Kaiserreich habe sich als historischer Irrweg erwiesen, den die Deutschen im November 1918 endlich verlassen hatten.
Dabei tritt in den Hintergrund, daß das Kaiserreich am Vorabend des Weltkrieges glänzend dastand, und daß es auch am Ende des Weltkriegs – anders als in Rußland – kaum ernsthafte Bestrebungen gab, den Kaiser zu beseitigen, wenn Deutschland nicht vor die Alternative gestellt worden wäre: Friede oder Hohenzollern?

Das Schicksal Wilhelms II. war längst mit dem Kriegsausgang verknüpft

Durch den Ersten Weltkrieg hatte sich die öffentliche Wahrnehmung des Kaisers zweifellos geändert. War er vor dem Krieg die anerkannte Instanz über dem Parteienstreit gewesen, mußte er sich jetzt praktisch als Führer in der Not bewähren. Hatte man ihm damals harmlose Marotten lächelnd nachgesehen, wog jetzt jede kleinste Verfehlung doppelt schwer.

Kaiser Wilhelm II. 1918
Die von ihm ausgewählten und durchgesetzten Heerführer versagten, und es entstand ihm in der Person des Feldmarschalls Paul von Hindenburg ein Konkurrent, der dem Kaiser in der Öffentlichkeit allmählich den Rang ablief. Bereits durch den Sieg bei Tannenberg Ende August 1914 war Hindenburg von der Aura des Siegers umgeben. Die Geländegewinne im Osten schrieb man ihm gut, während der – zunehmend als sinnlose Schlächterei empfundene – Stellungskrieg im Westen das Konto des Kaisers belastete.

Daher war dem Kaiser schon im April 1917 klar, daß es in diesem Krieg auch um seine Krone gehen würde. Auch in der nächsten Umgebung des Kaisers und bei ihm durchaus gewogenen Leuten gab es diese Auffassung. Der Bankier und Staatssekretär Karl Helfferich glaubte nach dem Zeugnis von Admiral von Müller, dem Chef des Marinekabinetts beim Kaiser, schon am 2. Oktober 1918 nicht mehr, daß der Kaiser „noch über Weihnachten hinaus regieren werde, und über den Kronprinzen [den ältesten Sohn Wilhelms II. als dessen Nachfolger] würde das Volk erst recht hinweggehen. Es sei gar nicht unwahrscheinlich, daß die Entente das Abtreten Wilhelms II. als Friedensbedingung fordern werde…“

Zuspitzung der Ereignisse im Oktober 1918: der Notenwechsel mit US-Präsident Wilson

Für die Abdankung des Kaisers ist dann tatsächlich der Notenwechsel mit dem amerikanischen Präsidenten Wilson entscheidend geworden. Er hat sich im nachhinein als Sargnagel der Monarchie erwiesen.
Vorausgegangen war dem Notenwechsel das Eingeständnis der Obersten Heeresleitung um Hindenburg und Ludendorff, daß das Halten der Front nicht länger garantiert werden könne. Über die wirkliche Lage an der Front und auch über den Zustand der alliierten Truppen ist viel gestritten worden. Offenbar schätzten die Alliierten den Kampfwert der deutschen Truppen wesentlich höher ein und rechneten nicht mehr damit, daß der Krieg 1918 beendet werden würde. Da auf deutscher Seite in der Annahme gehandelt wurde, daß Gefahr im Verzug sei, sind diese Spekulationen für die Anbahnung des Friedens letztlich unwichtig. Sie werden erst später wieder interessant, als es um die Frage des „Dolchstoßes“ ging.

US-Präsident Woodrow Wilson 1918

In Bezugnahme auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson, die dieser am 8. Januar 1918 verkündet und in der Folge immer weiter ausgebaut hatte, richtete der neue Reichskanzler Max von Baden, der extra deshalb ins Amt gekommen war, am 5. Oktober 1918 das Ersuchen an Wilson, die Herstellung eines Friedens in die Hand zu nehmen. Die Berufung auf die 14 Punkte war nicht unproblematisch, da sie so vage gehalten waren, daß sich daraus fast jede Forderung, insbesondere die sofortige Räumung der von den Deutschen besetzen Gebiete, ableiten ließ. Wilson ließ seinen Staatssekretär Robert Lansing am 8. Oktober daraufhin drei Fragen bzw. Bedingungen übermitteln.

Er ließ fragen, ob die Bitte um Frieden die Annahme der Bedingungen beinhalte, so daß im Anschluß nur noch Formalien zu klären seien und forderte als Bedingung die Räumung der besetzten Gebiete im Westen. Den entscheidenden Hinweis auf die Stoßrichtung, die sich in der Folge immer deutlicher herausstellen sollte, gibt die abschließende Frage, „ob der Kanzler nur für diejenigen Gewalten des Reiches spricht, die bisher den Krieg geführt haben“. In ihrer Antwortnote, die nicht mehr vom Reichskanzler, sondern vom Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, dem Außenminister, Wilhelm Solf, unterzeichnet war, bejahte die deutsche Regierung am 12. Oktober die erste Frage mit dem Zusatz, daß man davon ausginge, daß sich auch die Feinde an die 14 Punkte Wilsons halten würden, und versprach den Räumungsvorschlägen zu entsprechen. Zum heiklen letzten Punkt heißt es: „Die jetzige deutsche Regierung, die die Verantwortung für den Friedensschritt trägt, ist gebildet durch Verhandlungen und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit des Reichstags. In jeder seiner Handlungen, gestützt auf den Willen dieser Mehrheit, spricht der Reichskanzler im Namen der deutschen Regierung und des deutschen Volkes.“

US-Regierung: „Regime Change“ in Deutschland als Friedensbedingung

Diese viel- und nichtssagende Versicherung genügte der amerikanischen Seite nicht, da die neue Regierung zwar auf parlamentarischer Basis gebildet, der Kanzler jedoch vom Kaiser bestimmt worden war. In der Note vom 14. Oktober wurde man daher deutlicher, indem man die Friedensbedingungen, denen sich das Deutsche Reich zu unterwerfen habe, mit dem Zitat einer Rede Wilsons vom 4. Juli 1918 präzisierte. Die Forderung lautete: „Vernichtung jeder Willkür und Macht, die für sich allein und heimlich den Frieden der Welt stören kann, und wenn ihre Vernichtung jetzt nicht möglich ist, mindestens ihre Herabdrückung zu tatsächlicher Machtlosigkeit.“ Weiter heißt es in der Note: „Und die Macht, die bisher die deutsche Nation beherrscht, ist von der hier beschriebenen Art. Es liegt innerhalb der Wahl der deutschen Nation, das zu ändern.“ Ausdrücklich nennt die Note diesen Sachverhalt als die Bedingung, die dem Friedensschluß vorausgehen muß. Daher verlangte der US-Präsident entsprechende Bürgschaften in dieser „grundsätzlichen Frage“.

Am 21. Oktober antwortete Solf mit dem Hinweis auf die auf den Weg gebrachten Gesetze, die das Deutsche Reich in eine konstitutionelle Monarchie verwandeln würden und betonte den grundsätzlichen Wandel, der sich bereits vollzogen habe. Die Mitwirkung des Reichstags sei sichergestellt, und die Verantwortung des Reichskanzlers gegenüber dem Reichstag werde ausgebaut. „Die Frage des Präsidenten, mit wem er und die gegen Deutschland verbündeten Regierungen es zu tun haben, wird somit klar und unzweideutig dahingehend beantwortet, daß das Friedens- und Waffenstillstandsangebot ausgeht von einer Regierung, die, frei von jedem willkürlichen und unverantwortlichen Einfluß, getragen wird von der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes.“ Nachdem bislang der deutsche Kaiser nicht ausdrücklich erwähnt worden war, obwohl jedem Leser klar sein mußte, wessen Kopf hier gefordert wurde, ging die amerikanische Seite in ihrer Note vom 23. Oktober noch einen Schritt weiter. Da diese entscheidenden Passagen oft nur erwähnt werden, seien sie hier ausführlich zitiert:

„Der Präsident [Wilson] fühlt, daß er nicht aufrichtig wäre, wenn er nicht – und zwar in möglichst klarer Form – betonen würde, warum außerordentliche Sicherungen verlangt werden müssen. So bedeutungsvoll und wichtig die Verfassungsänderungen zu sein scheinen, von denen der deutsche Staatssekretär des Äußeren in seiner Note vom 20. Oktober spricht, so erscheint es doch nicht, daß die Grundsätze einer dem deutschen Volke verantwortlichen Regierung jetzt bereits vollständig angenommen sind, oder daß eine Bürgschaft besteht oder erwogen wird, damit die Systemänderung und die Durchführung der Maßregeln, über die jetzt teilweise eine Einigkeit erzielt worden ist, dauernd sein werden. Außerdem tritt nicht gerade in Erscheinung, ob der Kern der gegenwärtigen Frage getroffen worden ist. Es ist möglich, daß künftige Kriege jetzt unter Kontrolle gestellt worden sind, aber der gegenwärtige Krieg war es nicht und es handelt sich um den gegenwärtigen Krieg, mit dem wir es jetzt zu tun haben. Es ist klar, daß das deutsche Volk kein Mittel besitzt, um zu befehlen, daß sich die deutschen Militärbehörden dem Volkswillen unterordnen, daß die Macht des Königs von Preußen, die Politik des Reiches unter seiner Kontrolle zu halten, noch unzerstörbar ist, daß die entscheidende Initiative noch immer bei denen liegt, die bis jetzt die Herrscher in Deutschland waren.

In dem Gefühl, daß der ganze Weltfrieden jetzt davon abhängt, daß klar gesprochen und aufrichtig und klar gehandelt werde, betrachtet es der Präsident als eine Pflicht, ohne irgendeinen Versuch zu machen, Worte, die als schroff gelten können, zu mildern, auszusprechen, daß die Völker der Welt kein Vertrauen zu den Worten derjenigen hegen und hegen können, die bis jetzt die deutsche Politik beherrschten, und ebenfalls zu betonen, daß beim Friedensschluß und beim Versuche, die endlosen Leiden und Ungerechtigkeiten dieses Krieges ungeschehen zu machen, die Regierung der Vereinigten Staaten mit keinem anderen als mit den Vertretern des deutschen Volkes verhandeln kann, welche bessere Sicherheiten für eine wahre verfassungsmäßige Haltung bieten, als die bisherigen Beherrscher Deutschlands.

Wenn mit den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten Deutschlands jetzt verhandelt werden muß, kann und muss es nur die Aussicht haben, daß wir später auch mit ihnen bei der Regelung der internationalen Verpflichtungen des deutschen Reiches zu tun haben werden. Dann kann Deutschland über keine Friedensbedingungen verhandeln, sondern muß es sich ergeben. Diese wesentlichen Dinge können nicht unausgesprochen bleiben.“

Konstitutionelle Monarchie nur als Zwischenschritt

Auch wenn diese hinterhältigen Forderungen von der Obersten Heeresleitung abgelehnt wurden, liefen die politischen Konsequenzen doch auf deren Erfüllung hinaus. Die Regierung hatte schon Anfang Oktober eine zaghafte Verfassungsänderungsinitiative gestartet, die Mitte Oktober um eine weitergehende ergänzt worden war, um die konstitutionelle Monarchie Realität werden zu lassen. Beide Gesetze wurden nach Änderung durch den Reichstag von diesem in seiner letzten Sitzung am 25. und 26. Oktober angenommen. Am 26. Oktober war Ludendorff entlassen und Groener zu seinem Nachfolger berufen worden. Dementsprechend konnte Solf in einer abschließenden Note an Wilson Vollzug melden: „Die Friedensverhandlungen werden von einer Volksregierung geführt, in deren Händen die entscheidenden Machtbefugnisse tatsächlich und verfassungsmäßig ruhen. Ihr sind auch die militärischen Gewalten unterstellt.“ Formellen Abschluß fand diese Verfassungsänderung durch die Zustimmung des Bundesrates und die Unterzeichnung des Kaisers am 28. Oktober 1918.

Die Spekulationen über die konkreten Forderungen der Alliierten schossen in der öffentlichen Debatte ins Kraut, weil es in jedem Land eine gemäßigte und eine radikale Seite gab, von denen unklar war, wer sich durchsetzen würde. In Deutschland war man sich einig, daß man nicht jede Forderung akzeptieren würde. Beispielsweise erklärte selbst der radikale Sozialist Georg Ledebour im Reichstag, daß man niemals auf Danzig verzichten würde. Wenn der Preis der Kaiser war, wollte man diesen allerdings zahlen, weil die Deutschen hungerten und Ruhe brauchten. „Durch alle Bevölkerungsschichten hindurch zog sich der eine gemeinsame Wunsch nach Frieden, und das hieß zum einen: Abdankung des Kaisers, der dem Frieden im Weg zu stehen schien [bedingt durch die amerikanischen Forderungen]; und zum anderen: parlamentarische Demokratie, denn nichts war im Augenblick der Niederlage gewisser als die Schuld das alten Systems“, so der Historiker Hagen Schulze.

Der Kaiser verläßt Deutschland

Dieser Situation war der Kaiser nicht gewachsen. Er entzog sich diesen Forderungen, indem er Berlin verließ und sich ins Große Hauptquartier, nach Spa in Belgien, begab. Er ist offenbar der Überzeugung gewesen, daß er sich auf das Heer weiter verlassen würde können und mit ihm gemeinsam Gegenmaßnahmen ergreifen könne. Die Möglichkeiten, die erwogen wurden, reichen vom Gedanken, die Heimat durch eine Operation des Feldheeres wieder zu erobern, bis hin zu der Überlegung, sich an der Spitze seiner Truppen im Kampf gegen den Feind zu opfern. Die erste Variante verwarf der Kaiser, weil er Deutschland den Bürgerkrieg ersparen wollte. Die zweite Variante wurde ihm, wie auch die Überlegung, nach geschlossenem Waffenstillstand an der Spitze des Heeres in die Heimat zurückzukehren, von General Groener mit den berühmten Worten ausgeredet: „Das Heer wird unter seinen Führern und kommandierenden Generälen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter dem Befehl Euerer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Euer Majestät!”

9. November: das Ende der Monarchie in Deutschland

Diese realitätsferne Debatte dringt gerüchteweise nach Berlin und heizt die Stimmung dort, wo die Mehrheitssozialisten noch versuchen, die Abdankungsdebatte klein zu halten, noch zusätzlich an. Max Weber, der allerdings immer zu den Gegnern Wilhelm II. zählte, war sogar der Meinung, daß der Kaiser „durch die Desertion aus der Hauptstadt und Spielen mit dem Staatsstreich die Revolution geradezu provoziert“ habe.
Schließlich begann am 8. November das Waffenstillstandsdiktat in Compiègne; am nächsten Tag erreichte die Revolution, die zunächst nur in Kiel und Bayern ausgebrochen war, Berlin. Der Reichskanzler Max von Baden erklärte ohne Rücksprache mit Wilhelm dessen Thronverzicht. Mit den Worten: „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik!“, rief der Staatssekretär und Sozialist Philip Scheidemann die Republik aus. Der Kaiser floh auf Anraten Hindenburgs in die neutralen Niederlande.

Daß die Deutschen den Kaiser für den Frieden opferten, kann man ihnen in der damaligen Situation nicht verdenken. Allerdings muß man aus der heutigen Perspektive zwei Dinge ergänzen. Zum einen bedeutete die Lossagung vom Kaiser für alle Beamten und Offiziere einen Bruch des Treueeids, was für die Weimarer Republik eine nicht zu unterschätzende Hypothek darstellte. Zum anderen führte die Abdankung des Kaisers, die nach dem überstürzten Thronverzicht am 28. November formal nachgeholt wurde, keineswegs zum Frieden. Schließlich blieb die Hungerblockade der Alliierten bestehen, Deutschland war den Feinden hilflos ausgeliefert, mußte im Osten gegen den Bolschewismus kämpfen und fand erst nach einem Bürgerkrieg zu einem fragilen Frieden, der durch einen neuen Weltkrieg, der schon im Versailler Vertrag angelegt war, sein Ende fand. Es war also nicht nur Naivität, sondern auch Hilflosigkeit, die zu den Ereignissen von 1918 führte.

Der Krieg zweier Weltanschauungen

Zum Schluß bleibt die Frage, warum die Alliierten, insbesondere Wilson, unbedingt die Abdankung des Kaisers wollten. Die Amerikaner brauchten ein Symbol für den Sieg des Guten, und das war die Demokratisierung Deutschlands. Der Reeder und Kaiservertraute Albert Ballin hatte Anfang September gegenüber dem Kaiser den „brennenden Wunsch Wilsons (der allein heute, weil die Arbeiterparteien der Westmächte ihn als Sachwalter betrachten, den Schlüssel zum Haustempel hat), den Krieg nicht militärisch, sondern ideologisch zu enden“, noch als Trumpf Deutschlands bezeichnet, dabei aber unterschätzt, zu welch harten Konsequenzen vor allem ein Ideologe vom Schlage Wilsons fähig sein würde.

Der Krieg war kein „normaler“ Krieg mehr, in dem man den Unterlegenen weiterleben läßt, sondern einer, in dem der Feind von alliierter Seite nicht als Gegner, sondern als Krimineller, den es unschädlich zu machen und zu bestrafen gilt, betrachtet wurde. Die Amerikaner waren, insbesondere in der Person des außenpolitischen Beraters von Wilson, Oberst House, zudem der Überzeugung, daß dieser Krieg zwischen Demokratien und Autokratien ausgefochten wurde. Allerdings waren die Regierungssysteme ganz offensichtlich nicht entscheidend. Auch wenn heute die Ansicht verbreitet ist, daß der Erste Weltkrieg zwischen den Monarchien in Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen und den alliierten Demokratien auf der anderen Seite geführt wurde, war das jeweilige Regierungssystem kein Grund für Koalitionen. Das demokratische Frankreich war mit dem zaristischen Rußland verbündet, das aus Sicht der Alliierten viel besser zu Deutschland gepaßt hätte.

„Die Sanduhr läuft ab.“
Karikatur aus dem englischen Satiremagazin Punch
vom 13. November 1918

Daß es um grundsätzlicheres ging, hatte der Kaiser ebenfalls erkannt, wenngleich er es anläßlich seines 30jährigen Regierungsjubiläums anders zuspitzte. Es handelte sich bei dem Weltkrieg in seinen Worten „nicht um einen strategischen Feldzug, es handelte sich um den Kampf von zwei Weltanschauungen. Entweder soll die preußisch-deutsch-germanische Weltanschauung, Recht, Freiheit, Ehre und Sitte, in Ehre bleiben, oder die angelsächsische, das bedeutet: dem Götzendienste des Geldes verfallen. Die Völker der Welt arbeiten als Sklaven für die angelsächsische Herrenrasse, die sie unterjocht. Die beiden Anschauungen ringen miteinander, und da muß die eine unbedingt überwunden werden…“

Auch wenn Max Weber in dieser Zuspitzung die Ursache für die alliierten Forderungen nach Abdankung sehen wollte, weil Wilhelm den Krieg zu seiner persönlichen Fehde gemacht habe, handelt es sich bei diesen Worten um eine richtige Einsicht.
Es ging um einen Weltanschauungskrieg, der entsprechend geführt wurde. Das Symbol für „Recht, Freiheit, Ehre und Sitte“ mußte daher abdanken. Es war nur unklug, diese Gedanken so offen zu äußern. Über sein Schicksal haben diese Worte sicherlich nicht entschieden. Sie stehen aber symptomatisch für ein Problem, das letztendlich ursächlich für die Abdankung gewesen ist. Der Kaiser und die Deutschen waren der alliierten Propaganda, die den Gegner verteufelte und selbst für die gute Sache der Menschenrechte zu streiten vorgab, nicht gewachsen. Die Deutschen lernten im Laufe der vier Jahre am eigenen Leib kennen, was sich hinter der alliierten Heuchelei verbarg, z.B. durch die englische Hungerblockade. Der Kaiser lebte zunehmend in seiner eigenen Welt und verlor damit die Verbindung zur Wirklichkeit, die sich gerade in diesen Jahren grundlegend wandelte.